Das Erbe des Zauberers
keine Sorgen!«, beruhigte sie. »Mein Mitarbeiterstab hat die strikte Anweisung, Hexen mit offenen Armen zu empfangen, obgleich die da oben sicher nichts davon hielten. Darf isch dir eine Tasse Tee und etwas zu essen anbieten?«
Granny verbeugte sich ernst.
»Und isch beauftrage jemanden, ein Bündel hübsch alter Kleidung für dich zu holen«, fügte die Dicke fröhlich hinzu.
»Alte Kleidung? Oh. Ja. Ich verstehe. Vielen Dank.«
Die Haushälterin trat hinter dem Tisch hervor und verursachte dabei ein Geräusch, das sich anhörte, als ächze ein altes Segelschiff im Sturm. Mit einem freundlichen Wink forderte sie Oma Wetterwachs auf, ihr zu folgen.
»Isch lasse den Tee in mein Zimmer bringen. Tee mit vielen Teeblättern.«
Granny stapfte ihr nach. Alte Kleidung? Meinte sie das etwa ernst? Welche Unverschämtheit! Andererseits: Wenn es gute Qualität war …
Unter der Universität schien sich eine ganze Welt zu erstrecken. Es handelte sich um einen weiten Irrgarten aus Kellern, Vorratskammern, Küchen und Waschzimmern. Jeder Bewohner dieses Universums trug etwas, pumpte, schob oder stand einfach herum und redete mit lauter Stimme. Granny sah Räume voller Eis, und andere schimmerten in der Hitze rotglühender Backöfen, die bis zur Decke hinaufreichten. Es duftete nach frischem Brot, und aus Schankstuben wehte ihr der Geruch von abgestandenem Bier entgegen. Die meisten Düfte entschlüsselte die Hexe als Schweiß und Feuerrauch.
Die Haushälterin führte sie eine alte Wendeltreppe hinauf, holte ihr klirrendes Schlüsselbund hervor und öffnete eine Tür.
Granny starrte in ein rosafarbenes, mit Spitzen verziertes Zimmer. Sie bemerkte Rüschen an Dingen, die niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, mit einem derartigen Schmuck ausstatten würde. Es war, als betrete man eine Höhle aus Zuckerwatte.
»Hübsch«, log Oma Wetterwachs. Und als sie den erwartungsvollen Blick der dicken Frau auf sich ruhen spürte, fügte sie hinzu: »Geschmackvoll.«
Sie sah sich vergeblich nach irgendeiner Sitzgelegenheit ohne Rüschen um.
»Oh, bitte verzeih mir meine Unhöflichkeit!«, trillerte die Haushälterin. »Isch bin Frau Reineweiß, aber das weißt du sicher schon. Mit wem habe isch die Ehre …?«
»Wie?«, fragte die Hexe und runzelte die Stirn. »Oh! Granny ›Oma‹ Wetterwachs.«
Sie konnte die Rüschen nicht ertragen. Sie beleidigten die Ehre aller Farben, die auch nur entfernt einem (mehr oder weniger) anständigen Rosarot ähnelten.
»Isch bis auch überschinnlisch begabt«, sagte Frau Reineweiß.
Granny hatte nichts gegen die Wahrsagerei, vorausgesetzt dem entsprechenden Hellseher fehlte es an Talent. Ganz anders war es, wenn der oder die Betreffende wußte, worum es dabei ging. Oma Wetterwachs hielt die Zukunft für ein recht empfindsames Etwas, das sich sofort veränderte, wenn man es zu lange anstarrte. Ihre Theorien von der Raumzeit bestärkten sie in der Ansicht, es sei in jedem Fall besser, die Finger – und Augen – von solchen Dingen zu lassen. Glücklicherweise gab es nur wenige wirklich begabte Wahrsager, und für gewöhnlich zogen die Kunden unfähige Scharlatane vor, von denen man vertrauensvoll die gewünschte Dosis Zuversicht und Optimismus erwarten durfte.
Granny wußte sehr wohl, worauf es bei falscher Wahrsagerei ankam. Sie war weitaus schwieriger als die richtige, denn sie erforderte ein hohes Maß an Phantasie.
Mehrmals fragte sie sich, ob Frau Reineweiß mit der richtigen Ausbildung eine Hexe geworden wäre. Eins stand fest: Sie belagerte die Zukunft geradezu. Unter einem rüschenbesetzten Teewärmer lagen: eine Kristallkugel, Dutzende von Weissagungskarten und ein rosaroter Samtbeutel mit Runensteinen. Darüber hinaus gehörte zum Mobiliar auch ein kleiner Tisch mit Rollen, den eine vorsichtige Hexe nicht einmal mit einem drei Meter langen Besen angerührt hätte. Hinzu kamen einige seltsame Gebilde, die Granny nicht genau zu deuten wußte. Auf den ersten Blick betrachtet, sahen sie aus wie platte Torffladen, aber der Geruch erinnerte verdächtig an getrockneten Affenkot. Vielleicht hat sie beides gemischt, dachte Oma Wetterwachs zerknirscht. Würde mich gar nicht wundern. Woraus sie auch bestehen mochten: Man warf sie wie Würfel, und wenn sie anschließend zu Boden fielen, sollte ihre Anordnung die Gesamtsumme des kosmischen Wissens und der universalen Weisheit bilden. Granny seufzte innerlich.
»Wir könnten natürlich auch mit den Teeblättern vorliebnehmen«, sagte
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