Das Erbe des Zauberers
attraktiven jungen Männern wimmelte, die alle um die Gunst von Frau Reineweiß rangen. Sie sprach hastig, denn angesichts der jüngsten Ereignisse im Großen Saal hielt sie es für angeraten, so schnell wie möglich zum Tor zurückzukehren.
»Da wäre noch etwas«, fügte sie hinzu. »Ja, ja?«
»Ich sehe, daß du ein neues Dienstmädchen aufnimmst – du bist doch auch für die Einstellungen verantwortlich, nicht wahr? Gut. Es handelt sich um ein junges Mädchen, das keine großen Ansprüche stellt, sehr fleißig ist und sich überall nützlich machen kann.«
»Und weiter?«, fragte Frau Reineweiß. Sie genoß die verblüffend bunten Farben, in denen Granny ihre nahe Zukunft malte, und platzte fast vor Neugier.
»In dieser Hinsicht ist das Bild nicht ganz klar«, murmelte Granny. »Aber die Geister meinen, es sei sehr wichtig, daß du das Mädchen einstellst.«
»Kein Problem«, erwiderte die Haushälterin. »Weißt du, wir brauchen ständig neue Leute. Bei uns herrscht eine hohe Fluk … Fluktua … Isch meine, viele Dienstmädchen bleiben nur kurze Zeit hier. Wegen der Magie. Sie tropft zu uns herab. Insbesondere aus der Bibliothek, wo alle diese Zauberbücher aufbewahrt werden. Gerade erst gestern haben zwei junge Bedienstete gekündigt. Sie hätten es satt, abends ins Bett zu gehen und nicht zu wissen, in welcher Gestalt sie am nächsten Morgen aufwachen. Zweimal mußten einige erfahrene Zauberer eingreifen, um sie zurückzuverwandeln. Trotzdem blieben gewisse … Spuren.«
»Nun, die Geister der Teeblätter sind ganz sicher, daß dir das Mädchen in diesem Zusammenhang keine Probleme bereiten wird«, sagte Oma Wetterwachs fest.
»Wenn es fegen und wischen kann, ist es willkommen«, erklärte Frau Reineweiß und musterte die Hexe verwirrt.
»Es bringt sogar seinen eigenen Besen mit. Das sagen jedenfalls die Geister.«
»Sehr nett von dem Mädchen. Wann trifft es hier ein?«
»Oh, bald, bald – so behaupten die Geister.«
Ein Hauch von Argwohn regte sich in der Haushälterin. »Die Geister geben nur selten Auskünfte dieser Art. Kannst du mir die entsprechende Stelle zeigen?«
»Hier«, sagte Granny. »Sieh dir diesen Haufen kleiner Teeblätter an, zwischen dem Zucker und dem Kratzer. Na?«
Ihre Blicke trafen sich. Frau Reineweiß hatte gewiß ihre Schwächen, aber sie war streng genug, um die Kellerwelt unter der Universität zu regieren. Doch Oma Wetterwachs konnte mit ihrem durchdringenden Starren sogar eine Schlange aus der Fassung bringen. Nach einigen Sekunden begannen die Augen der Haushälterin zu tränen.
»Ja, isch glaube, du hast recht«, brummte sie eingeschüchtert und zog ein Taschentuch aus dem tiefen Tal zwischen ihren Brüsten.
»Na also«, sagte Granny, lehnte sich zurück und stellte die Tasse auf den Tisch.
»Hier gibt es gute Aufstiegsmöglichkeiten für junge Frauen, die bereit sind, hart zu arbeiten«, verkündete Frau Reineweiß. »Ich habe selbst als Dienstmädchen angefangen.«
»Das ist bei uns allen der Fall«, entgegnete Oma Wetterwachs vage. »Äh, ich muß jetzt gehen.«
Sie stand auf und griff nach ihrem Hut.
»Aber …«
»Ich habe es sehr eilig«, erwiderte Granny über die Schulter hinweg, als sie in Richtung Treppe stakte. »Ein wichtiger Termin.«
»Dort drüben liegt ein Bündel alter Kleidung für dich bereit …«
Granny verharrte, und ihre Instinkte begannen mit einem Staatsstreich, der sich gegen den bewußten Willen richtete.
»Ist auch schwarzer Samt dabei?«
»Ja. Und Seide.«
Die alte Hexe wußte nicht genau, ob ihr Seide gefiel. Sie hatte gehört, solcher Stoff stamme aus dem After von Raupen. Aber schwarzer Samt übte eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Schließlich trug Loyalität den Sieg davon.
»Heb die Sachen für mich auf!«, rief sie und lief durch den Gang. »Ich hole sie später ab.«
Köchinnen und Küchenmädchen sprangen beiseite und gingen in Deckung, als Oma Wetterwachs über die schlüpfrigen Fliesen stürmte und die Treppe zum Hof hochsauste. Der lange Schal wehte wie eine Fahne hinter ihr, und die Stiefel kratzten funkenstiebend übers Kopfsteinpflaster. Außerhalb des Gebäudes raffte sie ihre Röcke zusammen und begann einen vollen Galopp, bremste nur kurz ab, als sie um die Ecke schlitterte. Ihre Absätze hinterließen einen langen weißen Streifen auf dem Boden.
Sie erreichte den Platz vor der Universität gerade noch rechtzeitig genug, um Eskarina zu sehen, die tränenüberströmt durchs Tor
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