Das Erbe des Zauberers
kalten Fliesen und atmete ganz flach. Eine dünne Schicht aus silbrigem Sand bedeckte den Boden.
Esk schwebte im Dunst der Welt und stellte mit einer Art neutralem Interesse fest, wie ihr Körper massiven Stein durchdrang.
Sie war nicht allein, vernahm ein dumpfes Schnattern und Grollen.
Zorn stieg wie Galle in ihr auf. Sie spähte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, verdrängte das verlockende Wispern aus sich, das sie immer wieder darauf hinwies, wie angenehm es sei, sich einfach zu entspannen, die Gedanken treiben zu lassen und in ein warmes Bett aus Nichts zu sinken. Konzentrier dich auf deine Wut, erinnerte sie sich. Darauf kam es jetzt an: Sie mußte wütend bleiben, wenn sie sich nicht verlieren wollte.
Die Scheibenwelt blieb unter ihr zurück, und Eskarina blickte so auf sie hinab wie damals aus den Augen des Adlers. Aber diesmal sah sie nicht die Grate der Spitzhornberge, sondern das Runde Meer – es war tatsächlich rund; ein deutlicher Beweis für die auffällige Phantasielosigkeit des Schöpfers –, und jenseits davon erstreckten sich die Ausläufer des Kontinents. Sie beobachtete hohe Gebirgszüge, die bis zur Mitte reichten, winzige Inselgruppen, andere Landmassen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte.
Als sich die Perspektive veränderte, kam der Rand in Sicht. Derzeit herrschte noch die Dunkelheit der Nacht. Die kleine Orbitalsonne befand sich unterhalb der Scheibenwelt, und ihr Licht fiel auf den langen Wasserfall, der mit unerschütterlicher Geduld über die Kante floß.
Sie tauchte auch Groß-A’Tuin in einen hellen Glanz. Esk hatte sich oft gefragt, ob die Himmelsschildkröte nur ein Mythos sei. Warum sollte sie (oder er) vier Elefanten tragen, auf deren Schultern eine zehntausend Meilen durchmessende Scheibe ruhte? Aber es gab sie tatsächlich: Sternenstaub glänzte auf ihrem (oder seinem) von Meteoritenkratern übersäten Panzer.
Der Kopf glitt dicht an dem Mädchen vorbei, und Eskarina blickte in ein ozeangroßes Auge. Es hieß, wenn man weit genug in die Marschrichtung Groß-A’Tuins sehe, könne man das Ende des Universums erkennen. Nun, vielleicht beruhte dieser Eindruck nur auf der besonderen Mimik des ledrig anmutenden, großen Gesichts der Sternenschildkröte, aber Groß-A’Tuin wirkte irgendwie hoffnungsvoll, sogar optimistisch. Möglicherweise war das ›Ende des Universums‹ gar nicht so schlimm.
Wie in einem Traum streckte Esk die mentalen Hände aus und versuchte, das größte Bewußtsein im ganzen Kosmos zu borgen.
Sie überlegte es sich gerade noch rechtzeitig anders, kam sich wie ein Kind vor, das seinen neuen Rodelschlitten an einem sanft geneigten Hang ausprobieren möchte – und plötzlich feststellt, daß der Schnee bis in die Unendlichkeit reicht. Niemand konnte den Geist Groß-A’Tuins borgen. Ebensogut hätte man versuchen können, ein Meer auszutrinken. Die Gedanken der Himmelsschildkröte bewegten sich mit der massiven Gemächlichkeit von Gletschern.
Jenseits der Scheibenwelt schimmerten die Sterne, und irgend etwas schien mit ihnen nicht in Ordnung zu sein. Sie wirbelten wie Schneeflocken dahin. Ab und zu kamen sie wieder zur Ruhe und wirkten so unbeweglich wie sonst, nur um kurze Zeit später einen neuerlichen Tanz zu beginnen.
Normale Sterne durften sich eigentlich nicht auf diese Weise verhalten, fand Esk. Was bedeutete, daß sie keine normalen Sterne sah. Und das wiederum ließ die Schlußfolgerung zu, daß sie sich an keinem normalen Ort befand. Ein leises Schnattern in der Nähe erinnerte sie daran, daß sie mit ziemlicher Sicherheit sterben konnte, wenn sie an der Realität ihrer Umgebung zweifelte und die Geräusche nicht mehr beachtete. Sie drehte sich um, horchte und spähte durch den stellaren Schneesturm.
Die Sterne sprangen und fielen, sprangen und fielen …
Während sie weiterschwebte, versuchte sich Eskarina alltägliche Dinge ins Gedächtnis zurückzurufen, denn sie fürchtete folgendes: Wenn sie darüber nachzudenken begann, wohin sie unterwegs war, hielt sie es vielleicht für besser, sofort umzukehren, und sie zweifelte daran, ob sie den Rückweg kannte. Sie erinnerte sich an die achtzehn Kräuter, mit denen man Ohrschmerzen behandelte, und dieses Unterfangen beschäftigte sie eine Weile, da sie immer wieder die vier letzten vergaß.
Ein Stern sauste an ihr vorbei, und irgend etwas riß ihn jäh zurück. Er durchmaß etwa sechs Meter.
Nach den Kräutern konzentrierte sich Esk auf die verschiedenen Leiden von
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