Das Erbe des Zauberers
Summen wurde nun lauter, und es stank so sehr, als hätte jemand vergessen, eine bereits drei Wochen alte Leiche zu begraben. Esk bemühte sich weiterhin, zu der alten Hexe zu gelangen, achtete nicht auf das grüne Feuer, das ihr über den Arm gleißte und das Haar versengte.
Verzweifelt hielt sie nach den anderen Zauberern Ausschau, aber wer inzwischen noch nicht geflohen war, kauerte hinter umgestürzten Möbelstücken und hoffte, den okkulten Sturm mit heiler Haut zu überstehen.
Esk verließ die Halle und eilte durch den dunklen Flur. Schatten und Schemen folgten ihr, als sie schluchzend die Treppe hinabstürmte und sich Simons Zimmer näherte. Die Korridore und Gänge brummten und knisterten.
Etwas würde versuchen, den Körper des jungen Mannes zu übernehmen, erinnerte sich Esk an Grannys Hinweis. Etwas, das Simons Verhalten nachahmte, kaum von ihm zu unterscheiden war. Etwas Ungeheuerliches, das nicht von dieser Welt stammte …
Einige Schüler standen nervös vor der Tür. Sie wandten Esk blasse Gesichter zu, und als sie das entschlossene Blitzen in ihren Augen sahen, wichen sie nervös zurück.
»Irgend etwas ist dort drin«, sagte einer von ihnen. »Wir können die Pforte nicht öffnen!«
Sie musterten das Mädchen erwartungsvoll. Nach einigen Sekunden fügte einer der Studenten hinzu: »Du hast nicht zufällig den Schlüssel, oder?«
Esk griff nach dem Knauf und drehte ihn. Er bewegte sich, aber kurz darauf zuckte er so plötzlich zurück, daß er ihr fast die Haut von den Fingern schabte. Das Schnattern in der Kammer verwandelte sich in ein lautes höhnisches Kichern, und Eskarina hörte auch noch etwas anderes, dachte an ledrige Schwingen, die sich langsam entfalteten.
»Ihr seid Zauberer!«, entfuhr es ihr. »Unternehmt etwas!«
»Wir hatten noch keine Gelegenheit, Erfahrungen mit der Telekinese zu sammeln«, erwiderte einer.
»Ich war leider krank, als Feuerwerfen auf dem Lehrplan stand …«
»Nun, das Entmaterialisieren ist mir schon immer schwergefallen …«
Esk trat an die Tür heran, streckte die Hand aus – und verharrte. Plötzlich fiel ihr etwas ein: Oma Wetterwachs vertrat die Ansicht, daß sehr alte Gebäude ein eigenes Ich besaßen. Und die Universität war alt.
Vorsichtig wich sie zur Seite und tastete über den kühlen Stein. Sie mußte ganz behutsam vorgehen, um die granitene Seele nicht zu erschrecken … Esk spürte ein leises, kaum hörbares Flüstern im Gemäuer, die Gegenwart eines schlichten, aber weiten Bewußtseins. Es pulsierte um sie herum, und ihre mentalen Augen sahen winzige Gedankenfunken im Fels.
Irgend etwas grölte hinter der Tür.
Die drei Schüler sahen verwirrt zu, als Eskarina die Stirn an die Wand preßte und sich nicht mehr von der Stelle rührte.
Geduldig baute sie eine mentale Brücke zur Egosphäre der Unsichtbaren Universität. Sie fühlte gewaltiges Gewicht, das sie mit sich selbst in Verbindung brachte, einen riesigen Leib, nahm teil an Erinnerungen, die bis zum Anbeginn der Zeit zurückreichten, in die Epoche der heißen, glutflüssigen und freien Steine. Zum erstenmal in ihrem Leben gewann sie einen Eindruck davon, was es bedeutete, Balkone zu haben.
Sanft durchstreifte sie den Geist des Gebäudes und wartete, bis sich die allgemeinen Konturen verschärften. Dann richtete sie den Blick auf diesen Korridor, den verschlossenen Zugang.
Ganz langsam hob sie einen Arm. Die magischen Studenten beobachteten, wie sie den Zeigefinger spreizte.
Die Türangeln knarrten.
Eskarina spürte einen kurzen Widerstand, bevor sich die Nägel aus den dicken Bohlen lösten und wie Geschosse an die Mauer weiter hinten prallten. Dunkles Holz knarrte: Die Pforte (oder das, was sich dahinter befand) widersetzte sich ihren Bemühungen.
Blaue Flammen leckten in den Korridor, züngelten und zischten, als vage Dinge durch das grelle Glitzern im Zimmer wogten. Das aktinische Licht funkelte und schimmerte. (Es war genau jene Art von Licht, auf die Steven Spielberg sofort ein Copyright angemeldet hätte.)
Eskarinas Haar wallte, und dadurch sah sie aus wie ein ambulanter Löwenzahn. Kleine Schlangen aus schillernder Magie krochen ihr über die Haut, als sie durch die Tür trat – und im Gleißen verschwand.
Die Schüler im Flur rissen entsetzt die Augen auf. Das Glühen flackerte und verblaßte schlagartig.
Als die Studenten schließlich genug Mut aufbrachten, um einen Blick in die Kammer zu werfen, sahen sie nur den schlafenden Simon. Esk lag stumm auf den
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