Das Erbe des Zitronenkraemers
Milch in ihm heraufbrodeln.
Die aktuellsten Planänderungen waren dem Zeichner dieser Karte wohl nicht mehr zugänglich gewesen.
Hannes starrte wie gebannt auf das Gebiet der Pferdeschneise. Diese Position war nicht mit einem Kringel markiert. Hier war ein Kreuz aufgemalt. Ein fettes, schwarzes Kreuz. Daneben stand nicht der Name Martin Krischel. Neben dem Kreuz stand der Name Hannes Harenberg.
Vor lauter Gedankenwust in seinem Kopf hatte Hannes vollkommen vergessen, dass er vom Polizeipräsidium aus noch zu Annes Wohnung fahren wollte. Mittlerweile drehte er die dritte Runde um den Verkehrskreisel am Nells Park. Schon wieder hatte er die Abfahrt Richtung Autobahn nach Schweich verpasst.
„Verdammter Mist!“, fluchte er.
Wahrscheinlich ist es sowieso besser, Anne gar nichts von dem Besuch bei Lenz zu erzählen. Was bringt es, sie auch noch aufzuregen!, dachte er.
Hannes hörte ihre Worte in seinem Kopf. Ihre Worte am Abend nach dem Mord: „Dann hat’s dir gegolten!”
Wie recht sie hatte. Verdammter Mist!
Wer sollte es nur auf mich abgesehen haben? Schönemann vielleicht, ja. Aber der sitzt hinter Schloss und Riegel. „Hinter die ich ihn schließlich gebracht habe!”, erläuterte Hannes seinem Rückspiegel. Endlich hatte er es auf die Autobahn geschafft.
Der gleiche Wanderführer ist schon seltsam. Im Straßengraben hat ihn die Polizei gefunden. Neben dem Wirtschaftweg Richtung Golfplatz. Ob Schönemann einen Komplizen hier draußen hatte?, fragte er sich.
Lenz hatte Hannes eben Polizeischutz angeboten. Aber wie soll ich mich dann unauffällig umsehen? Dann kriegen die den Kerl wahrscheinlich nie! Dann hört diese Scheiße ja nie auf! Nein.
Hannes hatte abgelehnt.
Ja. Er würde sich umhören und, wie Lenz es ausgedrückt hatte, im Sumpf stochern. Aber wo soll ich anfangen? Ich soll auf mich aufpassen, hatte Lenz ihm empfohlen. Immer wachsam sein. Toll. Wie soll ich das anstellen?
Als Hannes an Kenn vorbeifuhr, hatten sich seine Nerven etwas beruhigt. Vielleicht versucht der Mörder es nicht wieder. Der erste Versuch ist ja schiefgegangen. Wahrscheinlich hat er jetzt die Hosen voll.
Und wird es nicht noch einmal riskieren.
Hannes atmete tief durch und fuhr bei Schweich von der Autobahn ab. „Da oben will mich noch keiner”, rief er wie zum Trotz zum offenen Fenster hinaus. Hannes sollte sich irren.
Kapitel 6
Leise schlich Andreas durch die dunkle Bildergalerie. Wie ein Einbrecher. So kam er sich auch vor. Wie ein Einbrecher, der in Sachen wühlte, die ihn nichts angingen. Der Dinge an sich nahm, die ihm nicht gehörten, der Wahrheiten erfuhr, von denen er nie hatte wissen wollen.
Andreas betrachtete sich eingehend das Porträt von Jacob Steinmetz, dem Begründer seiner Familie. Wie er nun erfahren hatte, war es der französische Maler Nicolas de Largillière, der dieses Abbild seines Urahns im Jahre 1696 auf diese Leinwand gebannt hatte.
Das Porträt eines Mörders.
Daneben hing das Bild von Jacobs Sohn Johann Steinmetz. Ihm hatte Andreas zu verdanken, dass er nun über all diese Dinge Bescheid wusste. Über Jacob.
Denn Johann Steinmetz hatte damit begonnen, die Geschichte seines Vaters niederzuschreiben und war somit der erste Chronist der Steinmetz-Dynastie gewesen.
Doch Andreas wünschte sich, er hätte diese Aufzeichnungen nie entdeckt. Langsam löste er den Blick von den alten Gemälden und schlich weiter.
Bernds Haus war ihm unheimlich. Genauso wie die Erinnerung an Bernd selbst. Wie lange hat mein Bruder dieses Geheimnis schon gehütet?, fragte er sich, und seit wann hatte er Bescheid gewusst? Wie lang schon hatte er geahnt, dass der verrückte Anrufer im Recht war?
Andreas blieb vor dem Porträt seines Bruders stehen. Bernd in Öl auf Leinwand. Bernd mit gewinnendem Lächeln. Erfolgreich, selbstbewusst. Arrogant, dachte Andreas. Überheblich. Er stellte die schwere Aktenasche auf den Marmorfliesen ab, um mit den Fingern die Linien von Bernds Gesicht nachzufahren. Die Linien waren klar und hart. Unveränderlich. Das Bild des Bruders in Andreas‘ Herz blieb dagegen verschwommen und fremd.
Andreas zog mit dem Mund den Handschuh vom Stumpf seines linken Arms. Er hielt das narbige rote Gebilde vor das Ölgesicht. „Sag, Bruder, habe ich das hier dir zu verdanken?”
Er streichelte die Wangenknochen seines Bruders mit dem Stumpf und spürte bei dieser Berührung sogleich den stechenden Schmerz, der seine abgeschnittenen Nervenbahnen immer durchzuckte, sobald er in
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