Das Erbe des Zitronenkraemers
„Entführungsopfer treten in eine krankhafte Beziehung zu ihren Peinigern. Sie werden misstrauisch gegen alle anderen, Polizei, Angehörige und so weiter. Denn die helfen ihnen nicht.“
„Behandelt er mich deshalb so, als sei ich Luft?“, warf Hannes konsterniert ein, „schließlich gehöre ich zu den Bösen, habe ihn ja gerettet aus den Fängen seines tollen Beschützers.“
„Gut möglich“, überlegte Anne.
„Die Entführer sind diejenigen, die ihnen das Essen geben, sie auf Toilette lassen und mit ihnen sprechen. Niemand sonst ermöglicht ihnen diese Annehmlichkeiten des Lebens. Der Name geht übrigens auf die Geiselnahme in einer Stockholmer Bank zurück. Auch dort entwickelten die Opfer eine solch abhängige Beziehung zu den Tätern. Sie haben sie sogar nach ihrer Befreiung im Gefängnis besucht, haben Freundschaften geschlossen und lange Zeit den Kontakt aufrechterhalten. Aber so was ist schon öfter vorgekommen. Erinnert ihr euch an die Entführungsgeschichte damals in Costa Rica?“
Anne schaute fragend in die Runde und blickte dabei in zwei ungläubige Gesichter.
„Diese deutschen Geiseln“, half sie ihnen auf die Sprünge, „die bis zum Letzten mit ihren Entführern sympathisiert und sie sogar verteidigt haben?“
Doch Annes Schulstunde musste noch vor dem „Pausenklingeln“ abgebrochen werden, denn sie hörten die Haustür.
Andreas hatte eine Aktentasche mitgebracht. Er wollte Anne etwas zeigen, da sie sich sehr für Geschichte interessierte. Seine eigene Geschichte bedeutete für Andreas eine Qual.
Bernd, sein Bruder, hatte früher die Familiengeschichte der Steinmetz‘ recherchiert. Andreas hatte davon gewusst, sich aber nie für die Ergebnisse interessiert.
Bis jetzt. Jetzt schämte er sich seiner Familie, zumindest, wenn man wie er einen Sinn für Gerechtigkeit besaß; sein Bruder hatte es aufgedeckt, denn er war es, der herausgefunden hatte, dass Anton Schönemann in der Tat der rechtmäßige Besitzer des Carove-Schmucks war.
Hätte Bernd ihm die Stücke doch einfach nur gegeben, dann wäre das alles nicht passiert. Dann würde Bernd noch leben, dann hätte ich noch meinen Arm und wäre niemals in dieser verdammten Höhle gelandet. Ich könnte weiterhin mein unkompliziertes, unbeschwertes Leben von früher führen.
Er wünschte, er hätte es nie herausgefunden.
Aber er hatte in Bernds Villa geschnüffelt. Eigentlich, um seinem toten Bruder nahe zu sein. Stundenlang hatte er sich in der Bildergalerie seiner Vorfahren aufgehalten. Auf einmal war seine Familie ihm wichtig. Dann hatte er sich wieder an Bernds Recherchen in die Vergangenheit erinnert. Er hatte daraufhin das ganze Haus abgesucht und war im Keller letztendlich fündig geworden; ein Ordner, voll mit alten Papieren. Alle sorgfältig restauriert und luftdicht verschweißt. Ein Erbe für die Ewigkeit.
Andreas zog nun diese Seiten aus der Aktentasche und überreichte sie Anne.
„Hier. Lies selbst“, sagte er, „das ist die Chronik der Familie Steinmetz, verfasst von Johann Steinmetz, dem Sohn von Jacob Steinmetz, der wiederum der Mörder von Ambrosius Carove ist. Ich habe mir nur die ersten paar Seiten angeschaut. Die haben mir schon gereicht.“
Anne zögerte. Will ich das?, fragte sie sich.
Wollte sie wirklich erfahren, wie die Geschichte nach dem gewaltsamen Tod von Ambrosius weiterging?
Denn darum würde es wohl gehen. Schließlich hatte Andreas‘ Urahn Jacob Ambrosius Carove im Jahre 1687 am Moselhöhenweg erschlagen und sich mit dem gestohlenen Schmuck sein zukünftiges Leben aufgebaut.
Natürlich würde sie es lesen.
Chronik der Familie Steinmetz, Teil I
Düsseldorf, im Jahre 1696
Nicolas de Largillière bot eine famose Erscheinung. Wahrlich eine schillernde Persönlichkeit von Welt und Kunst.
Er versprühte einen dezenten Duft nach Lavendel und betupfte sich ständig die Nase mit einem kleinen weißen Seidentüchlein.
Sein Justaucorps, der lange Überrock, wirkte extravagant und gab einen Blick frei auf die edle Spitze seines Hemdes. Dazu trug er eine Culotte, die hierzu passenden blaue Strümpfe und hochgeschlossene Schuhe mit Absätzen.
Seine Perücke war gelegt in unzählige silbrige Locken, tief herabhängend bis in den Rücken.
Unablässig drehte und schraubte er an seiner Staffelei, bis alles gerade und perfekt war. Die Leinwand stand bereit für den ersten Pinselstrich, und alle nur erdenklichen Farbtöne in Öl gebunden warteten scheinbar gespannt darauf, zu einem Gemälde vereinigt
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