Das Erbe
Zeichen, dass sie noch atmete, lebte und die Macht besaß, die Ereignisse zu beeinflussen.
Verzweifelt überlegte sie, was sie tun konnten. Doch ihr fiel nichts ein. Tom war derjenige, der am Zug war. Noch immer beherrschte er die Bühne ganz so, wie er es wollte. Und sein Mund verzog sich immer wieder zu dem bereits vertrauten süffisanten Lächeln.
Sie suchte Hilfe in den Gesichtern der anderen, aber sie schienen wie gefangen von Davids Geschichte. Jemand musste die Spannung lösen und die Erstarrung brechen.
Nur wie?
Selbst wenn Tom die Waffe in der Hand für einen Moment vergessen zu haben schien und seine Augen nur auf David gerichtet waren, da war immer noch Julia, die diesen Kasten mit Sprengstoff in den Händen hielt. Ihre Augen hatten einen glitzernden dunklen Schimmer. Ihre Wangen waren gerötet, doch die Stirn war blass. Sie wirkte gespenstisch, wie sie auf der Stuhlkante saß. Die Arme fest an den Körper gepresst, hielt sie den Kasten umklammert. Ein Wimmern kam aus ihrem Mund. Sie war nahe daran durchzudrehen.
Rose spürte, wie ihr Magen revoltierte. Sie drückte die Hände vor den Mund, um das Stöhnen zu unterdrücken, das mit der Galle aufstieg.
Es war Katie, die reagierte. So unterschiedlich sie und Julia waren, schienen sie manchmal wie Seelenverwandte. Etwas verband sie, um das Rose sie beneidete. Und Katie brach das Schweigen. Sie löste sich aus der Reihe und umkreiste einen Stuhl am Boden. »Okay, das war es wohl. Du hast bekommen, was du wolltest, Tom.«
Tom zuckte zusammen. »Geh zurück, Katie.«
Katie kümmerte sich nicht um seine Aufforderung. Sie lief einfach weiter. »Nein, wirklich, perfektes Timing. Eine gelungene Inszenierung. Dank an den Meister. Aber jetzt ist Ende der Vorstellung.«
Katie stoppte an dem Tisch, wo ihre Sachen lagen, und begann seelenruhig, Papiere und Stifte zusammenzusammeln.
»Ich habe gesagt, du sollst zurückgehen.« Toms Stimme klang weniger entschlossen als irritiert. Für einen Moment hatte Katie ihn aus dem Konzept gebracht.
Katie wandte sich Richtung Tür, wohl wissend, dass sie nicht entkommen konnte.
Jeder im Raum sah Tom angespannt an. Er machte eine Bewegung mit dem Kopf. Die vertraute Coolness in seinem Blick war verschwunden, stattdessen konnte Rose Hass erkennen, der für den Bruchteil einer Sekunde seine Augen verdunkelte.
Katie kam an der Tür an, wo sie kurz innehielt.
»Pass auf«, sagte Tom scharf. »Du spielst mein Spiel, Katie.«
Sie hielt kurz inne, blickte über ihre Schulter zu ihm zurück, bewegte sich zwei Schritte weiter und setzte sich auf den Boden.
»Tom.« Rose hatte bereits den Namen ausgesprochen, bevor sie überhaupt wusste, was sie sagen wollte. »Wann können wir gehen?«
Doch er hatte sie nicht gehört. Stattdessen starrte er Katie an.
»Rühr dich nicht vom Fleck, sonst erschieße ich jemanden. Nicht dich, sondern irgendjemanden, hast du verstanden?«
Er hob die Waffe mit beiden Händen und zielte genau auf Julia.
»Und wenn ich sie erschieße, gehen wir alle in die Luft.«
Es war schon still im Raum gewesen, aber nun war es totenstill.
Robert nahm seine Brille ab und bog wie x-mal zuvor den defekten Bügel zurecht. Ohne Brille schienen seine Augen größer. Das Blau in ihnen erinnerte Rose an diesen Flecken im Lake Mirror direkt unterhalb des Solomonfelsens, das sie Blue Eye nannten. Dann zog er sie wieder auf und ging einfach los. Schwankte über den See aus glitzernden Glassplittern, bis er bei Julia angekommen war. Dort beugte er sich leicht nach unten und nahm ihr sanft den Kasten aus der Hand.
Alle Augen waren nun auf Tom gerichtet. Erst Katie und nun Robert. Beide hatten ihn herausgefordert. Sie hatten die Erde, die während Davids Bericht zum Stillstand gekommen war, dazu gebracht, sich weiterzudrehen. Morgen, Mittag, Abend. Sonnenaufgang. Sonnenuntergang. Der Tag, an dem die Erde stillstand, sollte nicht damit enden, dass keine Entscheidung gefällt wurde.
Aber auch diesmal schoss Tom nicht. War er zu schwach, um zu reagieren? Zu erschöpft, um den Auslöser zu betätigen? Zu feige, um Robert zu töten?
Jedenfalls schien er mit irgendwelchen Skrupeln zu kämpfen, die sich Rose nicht erklären konnte.
Oder war das Unsinn? Tat Tom einfach wieder einmal das Unerwartete? Das, womit keiner von ihnen rechnete? Vielleicht gehörte es zu seinem Plan, seine Unberechenbarkeit zu demonstrieren.
Und vielleicht war genau das die Lücke, das Zeitfenster, in dem sie reagieren mussten.
Chris, nur drei
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