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Das Erbe

Das Erbe

Titel: Das Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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und wieder an ihnen vorüber. Keine von ihnen hatte die Augen geschlossen. Alle, an denen ich vorüberlief, starrten mich an. Wie sollte ich mich dem entziehen? Indem ich nicht mehr schlief? Aber so funktionierte Erinnerung nicht.
    Mein Job war es, Leben zu retten. Daran musste ich mich klammern.
    »David, David, David.«
    Musste er meinen Namen wiederholen?
    »Ich könnte dich einfach erschießen, oder?«
    »Dann tu es.« Die Worte kamen mit einem Stöhnen aus meinem Mund, ohne dass ich sie steuern konnte. Ich verlor die Kontrolle. Die Macht über mich selbst. Jacob hatte mit dem Gedanken gespielt, mich zu töten. Und nun kam er wieder angekrochen. Er versuchte, die Einsamkeit, die Lücke, die in mir existierte, wieder zu füllen. Ein Zwillingsbruder, das war etwas, das man nicht wegwischen konnte. Nicht, wenn man an Blutsbande dachte.
    Stopp!
    Tom und Jacob – die beiden hatten mich da, wo sie mich haben wollten. Im Niemandsland zwischen Realität und der tiefen Sehnsucht, alles würde in Ordnung kommen. Dieser Sphäre, in dem der Horizont nicht existierte. Diese Grenze zwischen Himmel und Erde.
    Hör auf, daran zu denken, David! Halte dich an die Fakten.
    Was hatte Tom ganz am Anfang gesagt? Er wolle meine Seele, nicht mein Leben. Nein, ich würde ihm weder das eine noch das andere geben.
    »Wann hast du dein Ziel erreicht, Tom«, flüsterte ich. »Wann?«
    Tom lachte laut auf. »Es geht nicht darum, wann ich mein Ziel erreicht habe.«
    Worum dann?
    Ging es darum, wann Jacob sein Ziel erreicht hatte?

23. Im Zeichen des Blitzes
    Plötzlich drang wieder der Lärm von Hubschraubern zu ihnen in den Raum. Eine ganze Armee von Hubschraubern. Eine Sirene sprang an und brach abrupt ab. Dann das hysterisch an- und abschwellende Geheul der Krankenwagen. Rose konnte sich das Chaos dort draußen auf dem Campus genau vorstellen. Polizei, Sanitäter und vielleicht Fernsehteams, die es endlich geschafft hatten, hier hoch ins Tal zu kommen, um vor Ort über die Ereignisse zu berichten.
    Apocalypse Now: zweihundertzwei Minuten Terror am College.
    Der Wahnsinnige vom Grace College.
    Tag der Abrechnung: Amoklauf im Grace Valley.
    So oder so ähnlich würden die Schlagzeilen lauten.
    Im College selbst war alles zum Stillstand gekommen. Die lauten Stimmen waren verstummt, niemand mehr rannte die Flure entlang. Jedes Wort, jeder Satz, den David sprach, hing über allem wie eine schwere schwarze Wolke. Tom hatte ihn gezwungen, sein Innerstes preiszugeben, und der Lautsprecher der Kamera hatte seine volle dunkle Stimme in jeden Winkel des Gebäudes getragen.
    Aber keiner wusste, wie er auf die Tatsache reagieren sollte, dass die Welt hier oben in Stücke brach. Hier in diesem Raum herrschte Krieg – und das lag nicht allein an der Bombe oder der Pistole. Der Begriff Psychoterror, er hatte für Rose eine ganz neue Dimension bekommen.
    Sie hätte gerne Davids Gesicht gesehen, um ihm zu verstehen zu geben, dass nichts, was Tom sprach oder tat, seine Schuld war. Doch sie starrte lediglich auf seinen Rücken. Die hellbraunen Haare kräuselten sich über dem Kragen seines Shirts. Solange er die Geschichte in nüchternem, distanziertem Tonfall erzählt hatte, hatte er sich kaum bewegt. Nur ab und zu hatten seine Schultern gezuckt. Nun aber hatte ihn eine nervöse Unruhe erfasst. Seine Hände ließen den Stuhl nicht los. Sie umklammerten die Lehne so fest, dass die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten. Einen Augenblick lang dachte Rose, er würde die Beherrschung verlieren und auf Tom zustürmen.
    Sie spürte, wie sich eine Gänsehaut über ihren Körper breitete, als sie sich umsah. Die militärische Ordnung, die hier am Morgen noch geherrscht hatte, existierte nicht mehr. Stattdessen waren die einzelnen Tische verschoben und mehrere umgestürzte Stühle versperrten den Weg. Der Boden war bedeckt mit Glassplittern, Arbeitsblättern, Stiften und grau gesprenkelten Mappen mit dem Wappen des Colleges. An Debbies Platz erinnerte nur noch ein Haufen Papiertaschentücher mit blauen Tintenspritzern daran, dass sie hier mit ihrem Füller gekämpft hatte. Hinten an der Wand, wo Mrs Hill gelegen hatte, war der Putz an der Stelle abgeplatzt, wo die Kugel eingeschlagen war. Ein abstraktes Muster aus Blut zeichnete sich auf der Fensterscheibe ab.
    Roses Herz zog sich in ihrem Oberkörper zusammen. Sie hätte sich das Gegenteil gewünscht. Hätte es gerne größer, stärker gefühlt. Hätte gerne jeden Schlag als das empfunden, was er war, das

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