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Das Erbe

Das Erbe

Titel: Das Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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möglich war.
    Nein, nicht alles.
    Ich richtete mich auf. Mein Blick suchte die Kamera. Ich wusste nicht, ob man mich sehen konnte, aber hören würden sie mich.
    »Wir haben hier einen Schwerverletzten«, schrie ich. »Puls unter vierzig. Wir brauchen einen Arzt.«
    Es war Völkerrecht, dass Verwundeten und Kranken unter allen Umständen Schutz gewährt werden musste. Aber das war offensichtlich ein Gesetz, das Tom nicht kannte oder einfach ignorierte.
    »Das reicht, David«, sagte er. »Geh zurück auf deinen Platz.«
    »Er muss überwacht werden«, entgegnete ich. »Sonst besteht die Gefahr, dass er stirbt.«
    »Das war der Sinn«, gab Tom zurück. »Er sollte sterben. Ich habe es nur vermasselt. Also, setz dich wieder hin.«
    Ich rührte mich nicht.
    »Denk daran, ich habe nichts zu verlieren. Wie Jacob. Und in meiner Tasche«, er deutete auf seinen Mantel, »befindet sich etwas, mit dem ich euch alle auslöschen kann.«
    Die stärkste Kraft in einem Menschen ist nicht die Todesangst, sondern ihr genaues Gegenteil. Es ist schwer, mit einem Menschen, der den Tod nicht fürchtet, den Kampf aufzunehmen.
    Der Gedanke machte mich wieder wütend. Er machte mich rasend. Ich blickte zum ersten Mal seit Minuten auf und starrte ausgerechnet in Roberts Gesicht. Es war sein Anblick, der mich zurück in die Wirklichkeit katapultierte.
    Er war mein Spiegelbild, nicht Jacob.
    Robert hielt diesen schwarzen Kasten in der Hand, der unser aller Leben bedeutete. Er würde ihn um keinen Preis loslassen. Vielleicht hing die Brille schief, was den Eindruck vermittelte, er sei desorientiert. Aber ich kannte Robert besser. Ich wusste, seine Gehirnzellen befanden sich im Alarmzustand. Er konzentrierte sich nur auf eines. Dass jede Verknüpfung seiner Nervenstränge auf den Punkt genau funktionierte und hundert Prozent Leistung brachte.
    Jede Gruppe war so stark wie das schwächste Glied in ihr. Der Risikofaktor war Chris gewesen. Und ihn hatte Tom ausgeschaltet. Jetzt kam es auf die an, die stark genug waren, sich ihm zu widersetzen.
    Es kam auf Robert an und auf mich, David Freeman.
    Ich sah mich um. Julia kauerte direkt neben mir. »Achte auf seinen Puls«, sagte ich. »Und wenn er abfällt, dann gib mir ein Zeichen.«
    Julia nickte. Die zarten Finger, nach denen ich mich monatelang gesehnt hatte, pressten sich auf Chris’ Handgelenk.
    »Spürst du etwas?«
    Sie nickte wieder.
    »Gut.«
    Dann erhob ich mich, nahm meinen Platz auf dem Stuhl wieder ein. Starrte in die Kamera, die genau in meine Richtung zeigte. Und sagte nur einen Satz: »Helfen Sie uns, bitte!«
    Tom hatte seinen Platz am Fenster aufgegeben. Er schaute auf die Uhr und tänzelte nervös durch den Raum. Etwas an seiner Haltung hatte sich verändert. Er schien in dem langen Mantel zu versinken, ja, fast schien es, als wollte er sich darin verstecken. Aber ich konnte eines nicht einfach ignorieren. Diese Unberechenbarkeit.
    »Ich habe euch in der Hand«, wiederholte er. »Ihr seid in meiner Gewalt.« Er streckte den rechten Arm aus, vollführte einen Halbkreis und deutete auf jeden von uns. »Dich und dich und dich.«
    Jacob hatte geschrien. Während er einen nach dem anderen erschoss, hatte er die ganze Zeit geschrien. Es war so etwas wie ein Geständnis gewesen. Aber Tom … er schien wie fremdgesteuert. Als ob das, was er auslöste, nichts mit ihm zu tun hatte. »Ich habe es schon einmal gesagt. Ihr seid nur Statisten.«
    Wie konnte es sein, dass er immer noch an diesem Gedanken festhielt? Hatten wir es ihm nicht gezeigt? Ihm nicht bewiesen, dass wir eben keine Schafherde waren? Kein Vieh, das sich einfach zum Schlachthof führen ließ?
    »Ich glaube, ihr habt es vergessen«, sagte Tom. Wieder der Blick auf die Uhr. »Ihr habt vergessen, wer die Regeln macht. Das ist ein Fehler.« Er deutete auf Chris. »Ihr seht doch, wozu ich fähig bin.«
    So wie er es sagte, schien es geradezu ein Privileg zu sein. Eine Art Begabung. Er fühlte sich selbst als Genie. Und dennoch hatte ich die ganze Zeit, während er sprach, das Gefühl, sein Drehbuch sei zu Ende. Er wusste einfach nicht, wie es weiterging. Und das war das Gefährliche. Ich glaube, Jacob hatte damals einen Plan. Tom hatte keinen mehr.
    Ich überschlug im Kopf, wie viel Zeit verstrichen war, seitdem ich und Robert den Raum betreten hatten. Es war mir unmöglich. Es erschien lange, aber in Wirklichkeit mochte keine Stunde vergangen sein.
    Auch die anderen spürten Toms Unsicherheit. Taylor, Ethan und Nikita. Ich hörte,

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