Das Erlkönig-Manöver
ans Land gezogenen Nachen zur Schiffsbrücke, und bald traten die Pferde auf Holz statt auf Stein. Unter ihnen rauschte der nimmer schlafende Rhein. Die Laternen auf dem Kutschbock warfen Licht auf die Brücke, die zu dieser Abendstunde beinahe leer war. All das war dazu geeignet, die Nerven der Gefährten nach dem Chaos im Deutschhaus und Arnims tollkühnem Sprung wieder zu besänftigen.
»Dort liegt Kastel!«, meinte Kleist, zum anderen Ufer weisend.
»Das Nächste steht oft ungreifbar fern«, sagte Goethe. »Loben wir den Tag also nicht vor dem Abend.«
Und tatsächlich rief Schiller vom Bock, als sie etwa drei Viertel der Brücke überwunden hatten: »Man folgt uns!«
Goethe riss so hart an den Zügeln, dass sich sein Ross unter ihm wiehernd aufbäumte. Vom Mainzer Ufer preschten ein halbes Dutzend Reiter auf die Brücke.
»Was halten Sie?«, fragte Bettine. »Den Pferden die Sporen gegeben!«
»Vergebens; sie würden uns spätestens in Kastel einholen. Herr Schiller, stellen Sie die Kutsche quer! Meine Herren, jetzt gebrauchen wir das Pulver!«
Schiller lenkte die Pferde, dass die Kutsche quer zur Brücke zu stehen kam, um sie zu blockieren. Kleist und Humboldt sprangen vom Pferd, um in aller Eile dem Dauphin und Arnim aus der Kutsche zu helfen. »Mein Atem stöhnt wie ein Fichtenwald«, sagte Letzterer. Die weiße Hose war an seinem rechten Schenkel rot gefärbt, und er hinkte.
Schiller nahm indessen eine der Kerzen aus dem Windglas, um damit Feuer an die Lunte zu legen. Zischend und dampfend fraß sich die Flamme die graue Kordel hinauf; bis zu den Pulverfässern unter der Bank waren es noch drei Fuß. Als dies getan war, schulterte er seine Armbrust. Die anderen hatten mittlerweile das nötigste Gepäck aus der Kutsche geholt. Da sie nur vier Pferde hatten, aber sieben Reiter waren, löste Schiller das Geschirr der beiden Kutschpferde. Die Riemen und Gürtel waren hartnäckig. Es war ein Kampf gegen die Zeit; gegen die nahenden Gegner und die brennende Lunte.
Ein Schuss fiel und hallte übers Wasser. Kleist hatte aus seiner Muskete eine Kugel auf die Verfolger abgefeuert, die nun, auf fünfzig Schritt herangekommen, ihre Pferde zügelten und ebenfalls zu den Waffen griffen. Humboldt half dem verletzten Arnim in den Sattel.
»Auf die Pferde!«, rief Goethe.
Schiller hatte das erste Pferd vom Geschirr befreit, und darauf nahm Humboldt Platz. Den Dauphin zog er zu sich aufs Pferd und ritt davon. Nun peitschten auch die Schüsse der Franzosen über die Brücke. Eine Kugel schlug im Sarg ein.
Kleist hatte die entladene Flinte von sich geworfen und seine beiden Pistolen gezogen. Im Schutz der Kutsche feuerte er auf die Reiter. Einem Soldaten schoss er das Ross unter dem Sattel tot. »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!«, donnerte er.
»Die Lunte?«, rief Schiller, der sich noch immer mit den Riemen plagte.
Kleist sah in die offene Kutsche. Die Flamme hatte einen Großteil der Lunte verzehrt und arbeitete sich nun an den beiden Fässern aufwärts. »Ein Fuß, nicht mehr!«
»Lassen Sie den verdammten Gaul, und kommen Sie!«, herrschte Goethe seinen Freund an. Bettine, Ar nim, Humboldt und der Dauphin hatten ihre Pferde bereits in Richtung Kastel angetrieben.
Nun erkannte Kleist den Ersten ihrer Verfolger: Es war kein Geringerer als Capitaine Santing, den ihre Kugeln nicht zu ängstigen schienen. Kleist legte auf ihn an – und verfehlte. Dann löste auch er sich von der Kutsche und schwang sich in den Sattel seines Pferdes.
»Nehmen Sie Abstand, ich bin sofort bei Ihnen«, rief Schiller und löste endlich den letzten Riemen. Er sprang auf den Rücken des Tieres.
Doch längst hatte der Capitaine aus Ingolstadt die Kutsche erreicht und umrundet. Schiller, der im Begriff war, seinem Pferd die Sporen zu geben, sah auf und dem Geschwärzten ins Basiliskenantlitz – und dessen Pistole in die Mündung. Santing löste den Hahn.
Einen Wimpernschlag früher aber zündete das Pulver in der Kutsche. Die Lunte hatte die Ladung von 1793 erreicht. Die Detonation riss die Kutsche in Stücke. Deutlich war der Lichtblitz von beiden Ufern zu sehen, und ein Donnerschlag wälzte sich übers Land. Ein Loch ward in die hölzerne Brücke gesprengt, und der Nachen, der die Planken hielt, ward wenig später von seinen Ankerketten in die Tiefe gezogen. Santing, Schiller und das Pferd wurden von den Füßen gerissen und mitsamt den Splittern der Kutsche in den Fluss geschleudert, jener auf die eine, dieser auf die
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