Das Erlkönig-Manöver
andere Seite. Die Explosion war so stark, dass selbst das Ross Kleists, der nicht genügend Abstand zwischen sich und das Pulver gebracht hatte, einknickte und auf die Seite gegen das Brückengeländer fiel, sich aber aus eigener Kraft wieder aufrichten konnte. Im Regen der Trümmer fiel eine Leiste des gewesenen Sargs auf Goethes Zweispitz und schlug die Oßmannstedter Wunde wieder auf. Nur mit größter Mühe gelang es dem Geheimrat, sein angsterfülltes Pferd zu zügeln. Er suchte das Wasser nach seinem Freund ab, fand aber nur die Bruchstücke der Kutsche, die der Rhein nun zügig davontrug. Schiller aber hatte der schwarze Mund verschlungen.
Auf der anderen Seite der Bresche, die nicht sonderlich groß, aber doch unüberwindbar war, bezogen jetzt die Gefolgsleute Santings Stellung. Als ihr erster Schuss krachte, trieb Kleist sein Pferd an, griff im Vorbeireiten die Zügel Goethes, der wie gelähmt und kühl bis ans Herz hinan in den Rhein starrte, und galoppierte mit ihm davon – ahnte Kleist doch, dass sie Ross und Reiter niemals wiedersehen würden.
Schillers erster Gedanke, nachdem er seine fünf Sinne wieder beisammen und Luft geschöpft hatte, galt der Münze, die ihm bei Burg Rheinstein versehentlich in den Strom gefallen war. Lastete nun tatsächlich der Fluch des Flusses auf ihm, wie es der alte Fischer vorausgesagt hatte? Und würde der Rheinstrom zu seinem Peinstrom werden? Würde er ertrinken oder vorher erfrieren? Bislang war die Kälte des Wassers noch zu ertragen. Die Armbrust lastete schwer auf seinem Rücken, und dennoch wollte er sich nicht von ihr trennen. Er gedachte der tröstenden Worte, die er dem sterbenden Schieferdecker mit auf den Weg gegeben hatte. Noch während er sich zu orientieren suchte, tönte das Geräusch von Schaufelrädern, die durch den Rhein stampften, an seine Ohren. Dann tauchten in unerwarteter Raschheit die Schiffsmühlen vor ihm auf. Sofort ruderte Schiller heftig mit Armen und Beinen, um nicht vom Strom in die Räder gespült zu werden. Seine Anstrengungen waren erfolgreich: Er erreichte tatsächlich die äußerste rechte Mühle, die wie die anderen an den Fundamenten der römischen Brücke vertäut war. Schiller bekam den Stein des geborstenen Brückenpfeilers zu fassen und klammerte sich daran, während der Rhein weiter seinen Leib umschäumte.
Die Mühlen waren verlassen. Eine Planke der zerstörten Schiffsbrücke hatte sich in den Schaufeln verfangen und blockierte das Rad so lange, bis sie endlich krachend zerbarst. Als von der Brücke ein Schuss fiel, schaute Schiller auf, aber er konnte in der Dunkelheit weder Freund noch Feind erkennen. Er prüfte, ob sein Leib heil geblieben, wartete, bis er vollends wieder bei Atem war, und stieß sich dann von seinem Halt ab in die eisigen Fluten. Das französische Ufer lag näher als das deutsche, aber er musste an Letzteres gelangen.
Je weiter er in die Mitte des Flusses geriet, desto stärker war auch die Strömung, und für eine Elle, die er vorankam, wurde er gut und gerne vier Ellen abgetrieben. Um sich von der Todesgefahr, in der er sich befand, abzulenken und gleichzeitig seinen Schwimmbewegungen einen klaren Rhythmus zu geben, rezitierte er im Kopfe Goethes Ballade vom Zauberlehrling – brach aber unvermittelt ab, als der Held des Gedichts selbst zu ersaufen drohte. Er schwamm ohne Takt weiter, bis bald, vom langen Widerstand das Wassers verzehrt, die Kraft aus seinen Gliedern schwand.
Er erreichte das Ufer mit Müh und Not, und der Moment, da seine Füße zum ersten Mal den schlammigen Grund berührten, musste einer der glücklichsten seines Lebens gewesen sein. Mehr kriechend als laufend schleppte er sich die letzten Schritte durch das halbhohe Wasser. Am Ufer selbst stolperte er, sodass er mit Händen und Antlitz in den deutschen Morast fiel.
»Sei mir gegrüßt, Vaterlandserde!«, murmelte er. »Hier muss ich liegen bleiben.«
Doch er durfte nicht liegen bleiben. Seine Glieder brannten, aber sein Leib war kalt. Mit großer Mühe richtete er sich auf, achtete des Wassers nicht, das noch in seinen Stiefeln war, und sah sich um. Kastel lag weit entfernt. Flussabwärts konnte er bereits die Lichter von Wiesbaden ausmachen und die Umrisse eines Pferdes – seines Pferdes, in der Tat, das er von der todbringenden Kutsche befreit hatte und das nun, nachdem es den Rhein wie er durchschwommen, nichts Besseres zu tun hatte, als mit aller Seelenruhe seinen Durst an ebenjenem zu stillen.
Langsam näherte sich
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