Das Erlkönig-Manöver
erschienen ließ. Am Kinn war eine schmale weiße Narbe zu sehen. Sein Blick kreiste furchtsam in der Runde – Santing nickte ihm mokant zu – und kam schließlich auf Bettine zu ruhen.
Sie wollte sprechen, aber noch bevor eine Silbe ihre Lippen verließ, sprach er: »Das ist nicht Agathe de Rambaud.«
Schweigen fiel über den Raum. Als Erste hatte Bettine ihre Sinne wieder beisammen. »Aber mein Louis –«
»Nennen Sie mich nicht so! Ich kenne Sie nicht!«
»Aber natürlich kennst du mich! Hat denn der Mönch nicht mit dir gesprochen?«
»Welcher Mönch?« Nun rührte sich Santing, und der Gefangene suchte bei ihm Hilfe. »Capitaine, dies ist nicht Madame de Rambaud, bei allem, was mir heilig ist! Überantworten Sie mich nicht den Fängen dieser Betrügerin!«
Santing und Saint-André sahen fragend zu Goethe. »Verständlich«, erklärte der. »Er will sich aus dem Urteil winden wie ein Aal aus der Reuse.«
»Nein! Ich kann Ihnen die rechte Rambaud beschreiben! Diese ist es nicht!«
Bettine legte ihre Hand beschwichtigend auf die des Gefangenen, doch der entriss sie dem Griff, als hätte ihn ein weißglühendes Eisen berührt.
»Was gibt dies?«, fragte Saint-André.
»Das Aufbäumen einer verlornen Seele auf dem Schafott«, sagte Goethe. »Schenken Sie seinem Gezeter bitte keinen Glauben.«
»Sie wollen mich töten!«, schrie der Gefangene aus vollem Halse. »Capitaine Santing, so helfen Sie mir! Ich flehe! Sind Sie ein Mensch, so fühlen Sie meine Not!« Fatalerweise klammerte sich der Verzweifelte nun ausgerechnet an Santings Gnade – wie sich der Schiffer an ebendem Felsen festklammert, an dem sein Schiff zerborsten ist.
»Ein Schauspiel für die Götter«, sagte Goethe und zollte dem Gefangenen spöttischen Applaus. »Beenden wir diese Scharade. – Madame de Rambaud, ist er der Sohn des Königs?«
»Er ist es«, antwortete Bettine.
»Ich bin es! Aber Sie sind es nicht!«
»Es ist aus, Monsieur Capet.« Goethe gab Kleist und Arnim einen Wink, worauf sich diese dem Gefangenen näherten.
»Mörder! Joseph und Maria rufe ich an!«
»Lass Joseph und Maria aus dem Spiele«, erwiderte Kleist.
»Zu Hülfe!«
»Hund, verfluchter, schweig jetzt, wenn diese Faust dir nicht den Rachen stopfen soll!«
»Nein, einen Augenblick«, sagte Saint-André, die Hände erhoben. »Bitte halten Sie Ihre Männer an. Die Einwände des Gefangenen erscheinen mir zu triftig, sie schlichtweg abzutun.«
»Monsieur le Préfet, meine Vollmacht –!«
»Ich wünsche eine Untersuchung seiner Vorwürfe. Zumindest wünsche ich, der Madame einige Fragen zu stellen, um auch die Echtheit ihrer Person zu überprüfen. Kann sie sich ausweisen? Ich nehme alle Folgen auf mich, sollte ich mit meiner Gründlichkeit den Befehlen des Ministers grob zuwiderhandeln.«
»Ich dulde keinen Aufschub«, sagte Goethe. Schweiß perlte auf seiner Stirn.
»Dies ist meine Präfektur, Lieutenant!«
Im allgemeinen Tumult entging es Humboldt, der hinter allen anderen nahe der Wand stand, nicht, dass Santings Adjutant die rechte Hand zum Futteral führte, um die Pistole zu ziehen. Humboldt, der nichts als seine Flin te in der Hand hielt, schlug dem Mann kurzerhand den Kolben gegen die Schläfe. Der Getroffne taumelte gegen die Tapete und riss ein Porträt des Kaisers mit sich zu Boden. Santing griff nach dem Säbel, aber quecksilbrig löste sich Arnim von dem Gefangenen und warf sich mit dem ganzen Körper auf den kräftigen Capitaine. Erst stießen auch diese beiden gegen die Wand, dann hieb der Capitaine seinen Ellenbogen in Arnims Magengrube. Arnim taumelte zurück, hielt aber des anderen Rock umklammert, bis dieser rücklings auf den Sekretär fiel. In fortdauernder Umklammerung stürzten die beiden hinter dem Möbel aufs Parkett und rissen Briefe und Schreibwerkzeug mit sich. Indessen hatte Goethe sein Terzerol gezückt, um damit Saint-André in Schach zu halten. Eine Hand hatte der Präfekt bereits an der Schublade seines Sekretärs, hinter dem das erbitterte Ringen zwischen den beiden Kraftmenschen geschah – zweifellos, um seinerseits eine Waffe hervorzuholen –, aber auf Goethes Wink hin hob er die Hände hinter den Kopf. Bettine schließlich hatte den Hirschfänger in einer schnellen Bewegung aus dem Stiefel gezogen, in dem sie ihn verborgen hatte, und die Schneide dem aufgeregten Gefangenen an die Kehle gesetzt, damit dieser in Stille sitzen blieb.
Die prekäre Situation schien unter Kontrolle – Humboldt und Kleist fesselten und
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