Das ermordete Haus
so keck aussah, wenn er ihn schräg auf dem Kopf trug, er hatte ihn durch diese furchtbaren Nächte getragen; im Regen, der pausenlos vom Himmel fiel, hatte er all seine Steife verloren und schließlich das Aussehen einer schadhaften Ziehharmonika angenommen. Seinen großen Stock mit den Schmuckbändern, die der ständige Regen mit der geschnitzten, sich unheilverkündend windenden Schlange verklebt hatte, er hatte ihn nur noch benutzt, um die nassen Dornenranken im Unterholz beiseite zu schieben, durch das er zitternd schlüpfte. Gott im Himmel! Hatte es jemals wieder so geregnet wie vor vierundzwanzig Jahren? Die Erinnerung an diesen endlosen Regen, an diese endlosen Nächte war lebendig geblieben.
Der 29. September 1896 … Damals war er fünfundzwanzig Jahre alt und floh über diese Straßen. Wenn eine Postkutsche mit trüben Laternen bimmelte, warf er sich in den Graben. Er hörte durch den kräftigen Trab der Pferde hindurch das Lachen der Frauen unter ihren tief ins Gesicht gezogenen Hauben, die Scherze der Männer, und all dieses Leben zog einen Schweif von Gerüchen hinter sich her; es roch nach Parfüms, nach Leder und Zigarrenrauch. Er dagegen war auf der Flucht, verfolgt vom schrecklichen Geräusch des Messers der Guillotine, das unweigerlich auf seine schmächtigen Jünglingsschultern herabfallen würde, wenn man ihn erwischte.
Denn wer hätte ihm geglaubt? Wer hätte seine Erklärungen für einleuchtend gehalten? Das fragte er sich noch jetzt, da er in den Polstern seiner Limousine versunken das vorbeirauschende Purpurrot der Ahornbäume betrachtete und dann unter dem Nadelpelz der Tannen über die Paßhöhe des Col de la Croix- Haute glitt. Als er damals, immer noch im sintflutartigen Regen, an dieser Stelle den Fuß auf den nördlichen Abhang des Passes setzte, hatte er zum ersten Mal das Gefühl gehabt, er würde vielleicht noch einmal davonkommen. Aber dazu hatte es einer finsteren Entschlossenheit bedurft, die Einladung auszuschlagen, die die erleuchteten Fenster oder die Dorfplätze auszusprechen schienen, wo die Kühe aus den Brunnen tranken. Man mußte sich tagsüber verstecken und nachts marschieren. Keinen Anhaltspunkt geben. Nirgendwo verweilen und sei es nur, um in irgendeinem Laden ein Stück Brot zu kaufen. Niemand durfte Gelegenheit erhalten zu sagen: »Ja, wir haben einen Landstreicher vorbeikommen sehen. Wir haben einen Handwerksgesellen beherbergt. Er kam aus dem Departement Basses-Alpes. Er schien Angst zu haben.« Glücklicherweise hatte ihm gerade diese Angst eine Beharrlichkeit verliehen, die jeder Bewährungsprobe standhielt. Er war marschiert, marschiert, marschiert. Jeder mühevolle Schritt brachte die Rettung ein Stückchen näher.
Er erinnerte sich noch an die Apfelbäume, die die Vorsehung dort hatte wachsen lassen. Sie hatten ihm in der Nacht durch den Vorratskellerduft, den sie ausströmten, den Weg gewiesen und hatten ihn großzügig ernährt.
Ebendieser Mann passierte Schlag zwölf Uhr die clue von Sisteron, die Dauphiné und Provence voneinander trennt. Er ließ den Chauffeur in der Rue Saunerie halten, um in einem Bureau de tabac eine Zeitung zu kaufen. Über drei Spalten erstreckte sich ein fettgedruckter Titel:
NEUES VERBRECHEN IN DEN BASSES-ALPES. MÜLLER ZWISCHEN SEINEN MÜHLSTEINEN ZERQUETSCHT.
UNFALL SO GUT WIE AUSGESCHLOSSEN!
Darunter war ein sehr dunkles Foto abgedruckt, auf dem man immerhin Mühlsteine erkennen konnte. Wie versteinert blieb der Mann auf seinem Sitz. Es schien ihm, als wären die letzten vierundzwanzig Jahre gar nicht vergangen, als befände er sich immer noch zitternd auf der Flucht im unaufhörlichen Regen.
Dann riß er sich zusammen. Er sagte sich, daß in der Zeit, in der er lebte, Verbrechen zum Alltag gehörten. Doch daß er nun, da er zum zweiten Mal in diese Gegend kam, diese wiederum unter dem Zeichen vergossenen Blutes vorfand, schien ihm ein böses Omen. Die Angst rumorte genauso stark in ihm wie damals. Beinahe hätte er dem Chauffeur befohlen umzukehren, aber das seiner sterbenden Frau gegebene Versprechen und angstvolle Neugier trieben ihn weiter. Von neuem spürte er, wie das Unheil nach ihm schnappte, mit Gewalt auf sich aufmerksam machte. Er beschloß, eine Pause einzulegen, damit der Chauffeur etwas essen konnte. Er selbst rührte kaum etwas an und streifte durch die Gassen. Die Stadt hatte sich kaum verändert. Er erinnerte sich an die Mühe, die es ihm bereitet hatte, die Laternen zu umgehen, als er nachts die Stadt
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