Das ermordete Haus
Brücke hinauf und machte sich dabei schmutzig, überquerte die Brücke, rief um Hilfe. Völlig verstört hielt sie inne, wußte nicht, in welche Richtung sie laufen sollte, rief mit gewaltiger Stimme das Echo um Hilfe an, grub die Fingernägel in die Handflächen. Und die Mädchen nahmen ihren Schrei auf, rannten ihr nach und hielten sich am Rock ihrer Mutter fest, als wären sie immer noch vier Jahre alt, den Weg entlang, der im Regen kaum zu erkennen war. Es gab keine Hoffnung, keinen Lichtschein am ganzen Horizont, nur diesen öligen Schimmer dort unten bei der Mühle, zu dem sie auf keinen Fall zurückkehren durften.
An jenem Abend standen drei von Gott verlassene Frauen in der Ebene von Lurs, zwischen Sigonce und den Niederungen von Planier. Drei Frauen, die wie Tiere in Todesangst heulten. Und der Wind warf ihnen Schwaden welker Blätter ins Gesicht, und der Lauzon brüllte und höhlte das Becken tiefer aus, in das er sich stürzte, und der Regen fiel und fiel.
Vom Instinkt geleitet, stiegen die drei Frauen den Hang von Lurs zum Dorf hinauf. Sie schrien vor dem Seminar, schlugen mit dem großen Bronzeklopfer gegen das Tor, als wollten sie es zertrümmern. Doch hinter den meterdicken Mauern schliefen alle weiter den Schlaf der Gerechten.
Immer noch schreiend, in ihren Hauspantoffeln auf den Pflastersteinen stolpernd, liefen sie nebeneinander die ansteigende Dorfstraße entlang. Ein Licht, ein einziges Licht warf zweihundert Meter weiter einen glänzenden goldenen Streifen auf das Pflaster.
Célestat Dormeur bearbeitete die Brotlaibe mit einem nassen Lappen, damit sie schön goldbraun aus dem Ofen kämen, als er von weit durch den Regen hindurch den Lärm hörte. Von weitem vernahm er das an- und abschwellende Gebrüll, das durchdringende Flehen, den dumpfen Nachhall einer erschöpften Klage, die zu ihm drangen wie ein klägliches Donnern. Das Ganze kam mit der Geschwindigkeit einer Lawine auf ihn zugerollt. Im selben Augenblick glaubte Célestat an alle Legenden, die er je gehört hatte. Aus dem wilden Schrei erschuf er in seinem Geist ein gestaltloses Ungeheuer, dessen Masse die Straße von Lurs gar nicht fassen konnte. Er sprang zu seinem Gewehr, verschanzte sich zwischen dem Ofen und den Mehlsäcken und stierte durch den Regenvorhang, den die Dachrinnen vor der Tür niedergehen ließen. Was sich dann aber aus der Nacht herausschälte, war schlimmer als jedes namenlose Ungeheuer. Waren es drei Frauen? Man sah nur noch drei verquollene Gesichter mit Mündern, die sich nicht mehr schlossen, die nur Regen und Angst ausspien, deren rote Augen nur noch riesige Pupillen waren. Ihre aufgeweichten Körper schienen im Unglück wie miteinander verschmolzen.
Länger als drei Minuten – die drei Minuten, die er brauchte, um sie zu erkennen – standen sie da, die Münder weit geöffnet zu einem letzten Schrei, der nicht kam. Es blieb ihnen nur eines, um sich ihm verständlich zu machen: Mit erschöpften, lahmen Armen beschrieben sie die Bewegung eines sich drehenden Rades.
15
SÉRAPHIN folgte dem Leichnam Didon Sépulcres. Das heißt dem, was man von ihm mit Hilfe eines Scheuerlappens, einer Schaufel und eines Eimers noch hatte einsammeln können.
Séraphin zweifelte an seinem Verstand. Zum dritten Mal hatte jemand die Arbeit an seiner Stelle getan und das auf eine so grauenhafte Art und Weise, daß er sich fragte, ob er selbst den Mut dazu gehabt hätte. Wer? An den Abenden, an denen er sich bei der Mühle herumtrieb und nach einem Weg suchte, sein Ziel zu erreichen, hatte er die Anwesenheit eines Unbekannten ge- spürt, der im Nebel oder in der Dunkelheit herumstrich, ungreif- bar, heimlich und flink wie das Trippeln eines Eichhörnchens im Laub. Warum? Wer außer ihm, Séraphin Monge, brachte genug Haß auf für diesen Mann, um ihn von einem Mühlstein zer- malmen zu lassen? Und außerdem, wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, Gaspard und Charmaine aus dem Weg zu räumen? Séraphin bemerkte, daß der hoch aus der Menge aufragende Leichenwagen auf dem steilen Weg, der von der Mühle zur Kirche und zum Friedhof von Lurs führt, nur langsam vorankam. Man hatte ein weiteres Pferd zur Verstärkung vor den Wagen spannen müssen. Er beobachtete Patrice, der die trauernde Rose Sépulcre am Arm führte und unter seinen Schirm zog, um sie vor dem Regen zu schützen. Denn es regnete auf der Beerdigung. Vor ihnen dampfte Lurs unter den Nebelschwaden. Ein trüber November hatte sich endgültig in der Gegend
Weitere Kostenlose Bücher