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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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eingenistet.
    Séraphin lief es kalt den Rücken herunter. Gaspard war tot.
    Die schuldlose Charmaine war tot. Didon Sépulcre war tot. Und jetzt raunte man sich im Leichenzug zu, daß Marie Dormeur im Sterben lag.
    Die Gendarmen mit ihren Fahrrädern standen in Reih und Glied um die bebende Menge herum, unter der sich vielleicht der Mörder befand, von Freunden umgeben. Wer weiß, vielleicht sprach er von seinen Geschäften, dort hinten in den letzten Reihen des Leichenzugs? Man hatte das Einlaßwehr offen gefunden, der Bolzen steckte in seinem Loch. Aber der Regen hatte alle Spuren weggewaschen. Jeder hätte in dieser düsteren Nebelnacht sein Haus verlassen können und über die ihm auch im Dunkeln vertrauten Wege gehen können, um dieses Wehr hochzuziehen, während Didon das Mahlwerk überprüfte. Jeder hätte für Gaspard den Rand des Wasserbeckens einseifen können. Aber: Nicht jeder hätte den beiden blutgierigen Hunden die Tür öffnen können, ohne befürchten zu müssen, in Stücke gerissen zu werden.
    Séraphin pflügte ohne Regenschutz durch die unter einem Meer von Schirmen verborgene Menge. Um ihn herum bildete sich stets eine respektvolle Leere, er ging immer allein. Man hielt Abstand zu ihm. Niemand wollte in seinem Schatten gehen. Mehrere Male widerstand er dem Drang, die Menge zu teilen, den Gendarmen seine Handgelenke darzubieten und zu sagen:
    »Nehmen Sie mich fest … Ich habe zwar niemanden umgebracht, doch ich hatte durchaus vor, diejenigen umzubringen, die jetzt tot sind. Nehmen Sie mich fest, führen Sie mich vor den Richter. Er hat mehr Verstand als Sie und ich. Vielleicht wird er klug daraus.«
    Aber wahrscheinlich blieb Séraphin gerade deshalb bis zur Kirche, bis zum Friedhof in den Reihen des Leichenzugs, weil er genau wußte, daß niemand ihn verstehen würde, und löste sich erst daraus, als er den Freiwilligen half, den leichten Sarg in die Grube gleiten zu lassen.
    Langsam und hartnäckig fiel der Regen auf Lurs und das Tal hernieder. Trübselig mischte sich das Brausen der Durance in das Elend der Welt. Marie stand nicht mehr auf. Marie warf die Arme in Zuckungen von einer Seite des Bettes auf die andere. Marie wiederholte ständig dieselben Worte: »Ich muß es ihnen sagen … Ich muß es ihnen unbedingt sagen …«
    »Der Doktor war da. Er sagt, wir müssen warten, bis es richtig zum Ausbruch kommt. Er sagt, er weiß nicht, was es ist.«
    »Ißt sie wenigstens?«
    »So gut wie nichts. Und manchmal redet sie dummes Zeug.«
    »Und was sagt sie dann?«
    »Oh, ungereimtes Zeug. Was soll sie schon groß sagen?«
    »Was für ungereimtes Zeug?«
    »Daß sie etwas vergessen hat. Daß sie etwas gesehen hat. Daß sie aufstehen muß, um jemandem etwas zu erklären …«
    Die Clorinde ließ sich auf den Ladentisch sinken, ihre Haare waren in Unordnung geraten. Sie weinte: Ihr Augapfel …
    »Du mußt ihr Johanniskraut zu trinken geben, in Ziegenmilch, das hilft.«
    »Was hab ich ihr nicht schon alles eingeflößt«, stöhnte Clorinde. »Eisenkraut, Bilsenkraut – nur ein einziges Körnchen –, Beinwell, Stechwinde und dazu Teufelskralle, Mutterwurz und Hornklee. Alles, sag ich dir.« Sie weinte noch heftiger. »Sie will nichts zu sich nehmen. Man muß ihr alles mit einem Teelöffel einflößen. Meine Mutter hilft mir, und meine Schwester kommt auch, aber ich kann nicht mehr. Ich kann den Leuten im Laden schon nicht mehr richtig rausgeben!«
    Der Zug mit dem toten Sépulcre kam auf seinem Weg durch die enge Straße zur Kirche unter Maries Fenster vorbei. Man hörte das Rumpeln des Leichenwagens – jedes der vier Räder quietschte in einer anderen Tonlage –, das verhaltene Wiehern der wohlerzogenen Pferde, das leise Schlurfen der Schritte, Getuschel; man sah die tief gebeugten Häupter, die in einer letzten Andacht versunken waren. Man hatte sogar dafür ge- sorgt, daß der Pfarrer und die Chorknaben ihren Wechselgesang bis zum Ende der Straße einstellten. Aber das Geschniefe eines Leichenzugs ist nicht zu überhören.
    Marie hörte auf zu stöhnen und schien plötzlich voll gespannter Aufmerksamkeit. Ihre fiebrigen Augen rollten in ihren Höhlen hin und her. Sie setzte sich auf.
    »Wer wird da beerdigt?«
    »Niemand. Ein Alter. Bleib ruhig, sonst steigt das Fieber wieder.«
    »Ich muß raus und ihnen sagen …« Sie warf die Bettdecken zurück, setzte einen Fuß auf die roten Bodenfliesen und geriet ins Schwanken.
    »Da siehst du’s, meine arme Kleine. Du kannst ja kaum stehen. Wenn du

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