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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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durchquerte. Er erinnerte sich, daß er die Schuhe ausgezogen hatte, um das Geräusch seiner Schritte zu dämpfen. Das Entsetzen von damals packte ihn von neuem. Es machte zwanzig Jahre ruhigen Lebens ungeschehen.
    Von Sisteron an duckte er sich tief in den Rücksitz der Limousine, als fürchtete er, wiedererkannt zu werden. Les Bons- Enfants, Peipin, Château-Arnoux, Peyruis … In Peyruis gab der Mann dem Chauffeur den Befehl, langsamer zu fahren. Er fürchtete, sich nicht mehr zurechtzufinden. Bei Pont-Bernard, einem großen Hof mit einem Taubenschlag, der an der Straße Wache hielt, ließ er den Wagen halten und stieg aus.
    »Warten Sie hier auf mich«, sagte er dem Chauffeur. Seine Angst war verflogen. Wie der junge Geselle von einst schritt er auf der Straße voran, trunken von Jugend und frei wie ein Vogel. Er fand in seinem Schnurrbart sogar die unbekümmerte Melodie wieder, die er quer durch ganz Frankreich vor sich hin gepfiffen hatte. Er erkannte jeden Felsen wieder, jede kleine Brücke, jeden Weidenbusch. An dieser Quelle direkt am Erdboden mit dem seltsam abgewetzten Stein hatte er angehalten, um zu trinken. Die Nacht war hereingebrochen. Das Nachtlager, auf das man ihn verwiesen hatte, war nicht mehr weit gewesen. »La Burlière … La Burlière«, hatte man ihm gesagt, »und der Besitzer heißt Félicien Monge. Du wirst sehen, er wird dich gut aufnehmen …«
    Er erkannte alles wieder, der ehemalige Handwerksbursch, außer den Eisenbahnschienen, die es damals noch nicht gegeben hatte. Plötzlich – er glaubte, seit nicht mehr als fünf Minuten unterwegs zu sein – sagte ihm das einschläfernde Säuseln des Windes in den hohen Zypressen, daß er sein Ziel erreicht hatte. Dieses Geräusch hatte er damals auch gehört. Nach rechts ging ein Weg ab, das hatte er nie vergessen. In der einfallenden Nacht war er über die Wagenspuren gestolpert, die der Fuhrbetrieb mehrerer Generationen in den gewölbten Steinplatten hinterlassen hatte. Er fand seine Leichtigkeit, seinen Schwung und seine Selbstsicherheit von damals wieder. Um einigermaßen ordentlich auszusehen, hatte er seine Schuhe kräftig mit Grasbüscheln abgerieben, die er am Straßenrand ausgerissen hatte. Seinen Gesellenhut hatte er etwas schief aufgesetzt und die festlichen Bänder seines Stocks entwirrt. Er hatte diese Tür da aufgestoßen und gerufen: »Grüß euch Gott, alle zusammen!« Diese Tür da? Welche Tür denn? Noch immer wiegte der Wind die vier Zypressen hin und her und entlockte ihnen einen langgezogenen Klagelaut.
    Der Handwerksgeselle betrachtete verdutzt diese weite, weiße, mit Schotter bedeckte Leere vor sich, aus der hier und dort ein Büschel frischen Grases hervorwuchs. Er ging auf die Fläche zu, und als er seinen Fuß darauf gesetzt hatte, durchfuhr ihn die flüchtige Empfindung, er sei durch eine Mauer gegangen. Als wäre sie nur durch einen größeren Schritt von ihm getrennt gewesen, sprang ihm die Vergangenheit mit neuer Kraft an die Kehle. Dieser Geruch von zum Trocknen aufgehängten Windeln, von Muttermilch, heißer Suppe und Ruß, der ihn auf der Schwelle empfangen hatte, stieg ihm in die Nase, als ob die große, öde Fläche unter seinen Füßen ihn über die lange Zeit hinweg aufbewahrt hätte, um ihn heute zurückzugeben.
    Er sah alles wieder, er nahm alles wieder wahr: die junge, hübsche Frau, die dort gesessen hatte, den rothaarigen Mann, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab gegangen war, den Alten am Kamin, das Kichern der Kinder unter dem großen Tisch, die Wanduhr und darunter, auf dem Fußboden, eine Wiege, in der ein Neugeborenes wimmerte. Es mußte hier gewesen sein. Genau zwischen den vier Zypressen, die hoch über ihm ein Lied von Aufbruch und großer Fahrt zusammenreimten.
    Schnell zog er sich aus der scharf abgegrenzten weißen Fläche zurück, als ob er aus Achtlosigkeit auf ein Grab getreten wäre.
    Da fiel sein Blick auf den Brunnen. Er strahlte weiß in der Wintersonne, genauso, wie er im Mondschein geleuchtet hatte; er wenigstens hatte sich nicht verändert. Er schien fast wie neu zu sein, erst vor kurzem gebaut. Der Mann ging langsam auf ihn zu. Er betrachtete das Bild, das er in seiner Erinnerung von diesem Brunnen im Mondschein bewahrt hatte, damals, als er blutjung und voller Angst mit den Zähnen klapperte, während hinter ihm die tobende Durance den Hauch der Berge herantrug. Ein Windstoß ließ vor ihm einen Wirbel von welken Blättern aus dem Becken des

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