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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Waschtrogs emporsteigen. Er wiegte sich eine Zeitlang in der Luft, geschmeidig, gleichsam körperlos, und fiel dann in einem Blätterregen in sich zusammen.
    Plötzlich hörte der Mann ein Gebimmel von Glöckchen zwischen den Steineichen. Er ging ihm nach. Weiter oben in den Lichtungen der Eichenhaine hütete eine Greisin mit scharfem Blick ein paar Ziegen und beobachtete, wie er näher kam. Er trat auf sie zu und lüftete den Hut.
    »Vielleicht können Sie mir helfen«, sagte er. »Stand hier nicht früher ein Hof namens La Burlière?«
    »Der stand hier«, erwiderte die Ziegenhirtin. Beim Sprechen klapperten ihre zahnlosen Kiefer.
    »Nun sagen Sie mal … Was ist passiert? Ein Brand?«
    »Nein, ein Verbrechen. Ein abscheuliches Verbrechen. Ein Verbrechen, an das sich heute noch alle erinnern.« Die Hirtin lehnte ihren mageren Hintern gegen die Tuffsteinböschung.
    »Fünf Menschen, Monsieur! Fünf wurden umgebracht.«
    Fünf … Der ehemalige Handwerksbursch schloß die Augen. Er hatte damals, mit vor Schreck geweiteten Augen, nicht zählen können, wie viele Tote im Raum gelegen hatten. Er erinnerte sich nur noch an dieses Rinnsal, das sich auf ihn zuschlängelte, den Rand der Falltür erreichte und dann die hölzerne Treppe hinunterfloß, mit einem dumpfen Platschen auf seine Schuhe fiel und den Saum seiner Hose befleckte. Wer hätte ihm Glauben geschenkt mit all dem Blut, das er an sich hatte?
    Die Hirtin erzählte ihm von der Entdeckung des Verbrechens, von der Beerdigung der Opfer, von der Festnahme der Schuldigen, von der Gerichtsverhandlung bei vollbesetztem Saal, vom beruhigenden Ende der Täter unter der Guillotine. Und von der Erinnerung, die einem an stürmischen Abenden eine Gänsehaut bescherte.
    Mit geballten Fäusten stand er vor diesem Wortschwall, der sich aus dem zahnlosen Mund ergoß. Zehnmal wollte er sie unterbrechen, zehnmal nahm er Abstand davon. Er hätte gern geschrien: »Nie und nimmer, Sie irren sich! So hat es sich nicht zugetragen. Nie und nimmer. Ihre drei Schuldigen, auf deren Enthauptung Sie so stolz sind –, sie waren unschuldig. Verstehen Sie: unschuldig.«
    Der Gedanke an diese vor langer Zeit Hingerichteten, von denen sicher nicht einmal mehr die Knochen im Massengrab übrig waren, erschütterte ihn. Er erschütterte ihn, weil ein einziges Wort von ihm ihnen damals das Leben gerettet hätte. Aber da hätte er seinen Kopf für die ihren hinhalten müssen; denn wer hätte ihm geglaubt?
    »Sie sind ganz schön blaß, mein lieber Herr. Stimmt schon, es ist nicht gerade lustig, was ich Ihnen da erzähle. Aber zum Glück hat’s wenigstens einen Überlebenden gegeben. Der liebe Gott hat nicht gewollt, daß alle sterben.« Sie zeigte mit dem Ende ihres gewundenen Hirtenstabes auf den leeren Platz zwischen den Zypressen.
    »Er war es, der das getan hat …« sagte sie. »Alles! Er wollte nicht, daß auch nur ein Stein auf dem anderen bleibt, der ihn daran erinnern könnte.«
    Ein Überlebender! Wie hatte jemand dieses Blutbad überleben können? Der Geselle hatte damals taumelnd und mit glasigen Augen nur Sterbende gesehen. Er sah immer noch und noch schärfer, seitdem er hier war, die erhobene Hand der Mutter, mit gespreizten Fingern, die kraftlos zurückfiel. Ein Überlebender … »Ja«, fing die Alte wieder an, »niemand weiß, warum. Ob sie ihn nicht gesehen haben? Oder sind sie zurückgeschreckt, weil sie dachten, es bringe Unglück, wenn man einen Cherub tötete? Sie müssen wissen, er war kaum drei Wochen alt …«
    Drei Wochen … Das also war die Wiege vor der großen Uhr. Ein Mann, der heute vierundzwanzig Jahre alt sein mußte. Vielleicht ein Mann, dem er endlich die Wahrheit sagen und so sein Gewissen erleichtern konnte.
    »Ist er … Ich meine, lebt er noch?« fragte er.
    »Na und ob er lebt. Er ist groß wie ein Turm. Und gut sieht er aus!« Sie schlug die Hände zusammen und sah zum Himmel auf, als ob sie ihn zum Zeugen anrufen wollte. »Es sieht fast so aus, als ob der liebe Gott ihn so schön gemacht hat, um etwas an ihm wiedergutzumachen.«
    »Und … Wohnt er hier in der Gegend?«
    Der Blick der Tricanote wurde noch schärfer als gewöhnlich. Während sie sprach, forderte sie irgend etwas Unbestimmbares zur Wachsamkeit auf. In Lurs passierten so viele seltsame, so viele schreckliche Dinge. Wo kam denn dieser Mann plötzlich her, in tiefer Trauer, mit seinem schwarzen Anzug, seiner schwarzen Krawatte, seinem Trauerflor am Hut und dieser untröstlichen Miene? Schon oft

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