Das ermordete Haus
wieder gesund bist, wirst du es ihnen sagen …«
»Dann ist es zu spät«, sagte Marie.
Sie ließ sich wieder auf ihr Kopfkissen fallen und warf den Kopf hin und her wie jemand, den niemand versteht.
Die Clorinde oder ihre Schwester verließen das anheimelnde Zimmer mit dem Meißner Porzellan, dem hübschen, mit Intarsien verzierten Sekretär und den ineinandergeschobenen Beistelltischchen jedesmal in völliger Erschöpfung.
»Sie betastet die leere Stelle an ihrem Finger … Und sie verlangt nach ihrem Aquamarinring. Gott steh uns bei! Man müßte nach Aix runter, einen neuen kaufen … Aber wie, frag ich dich? Mit dem Laden und der kranken Marie, wie soll ich das denn schaffen?«
Die Tricanote kam, um die letzten Neuigkeiten zu erfahren, machte dreimal die Runde durchs Zimmer. Ihr Ziegen- hirtinnenschritt klang hell auf den Bodenfliesen. Sie schnaubte. Aus Verachtung? Oder hegte sie einen Verdacht? Auf jeden Fall stellte sie den geweihten Buchsbaumzweig, der am Kopfende von Maries Bett lag und schon braun geworden war, in einen kleinen Becher aus rosafarbenem Meißner Porzellan, der mit einem nicht sehr andächtigen Engelchen verziert war, das eher an einen geflügelten Amor erinnerte als an einen Soldaten aus der Leibgarde des Allmächtigen.
Und dann begann sie zu sprechen, die Tricanote, aber erst nach einiger Zeit: »Von wegen Typhus! Ich weiß, was sie hat. Gott behüte!« Und preßte ihre ohnehin schmalen Lippen zusammen.
In dieser Zeit machte sich der Mann, der den Schlüssel zur Lösung des Rätsels besaß, auf den Weg nach Peyruis. Vielleicht wurde er von einer Art krankhafter Sehnsucht getrieben, diese Gegend wiederzusehen.
Der Mann war traurig. Der Mann war in Trauer. Er trug einen breiten schwarzen Trauerflor am Hutband. Seine Frau, die er geliebt hatte, war vor kurzem gestorben. Er hatte sich tief in die Polster seiner Limousine einsinken lassen, sein Blick glänzte noch von Tränen. Er kam aus Saint-Chély d’Apcher in der Auvergne, wo er in vier Kriegsjahren als Lieferant von Hieb- und Stichwaffen für die Armee endlich reich geworden war.
Seine drei Kinder, die es eilig hatten, auf eigenen Füßen zu stehen, hatten ihn dazu gedrängt, die Gelegenheit zu ergreifen, die die traurigen Umstände boten, und einige Zeit auszuspannen. Er war auf dem Weg nach Marseille, um sich nach den Antillen einzuschiffen, wo er geschäftlich zu tun hatte.
Er hätte den direkten Weg durch das Rhonetal nehmen können, aber in Lyon hatte er zu seinem Chauffeur gesagt: »Fahren Sie weiter in Richtung Grenoble, wir fahren durch die Alpen.«
Diesen Umweg war er seiner Frau schuldig, die als einzige in seine Vergangenheit eingeweiht war und die ihm dieses Ver- sprechen während ihrer Krankheit abgenommen hatte. Und so saß dieser reiche, traurige Mann nun in seiner Luxuslimousine, die auf der holprigen Straße, im letzten Glanz der flammend- bunten Ahornbäume, die eine dreißig Kilometer lange Allee säumten, von Monestier-de-Clermont zum Col de la Croix- Haute emporfuhr.
Der November war mild in den Tälern des Trièves, zwischen dem Vercors und dem Champsaur. Der traurige Blick dieses Mannes folgte nachdenklich den Hügeln, den Wäldern, den fernen Bergen, den Dörfern mit den grauen Kirchtürmen, die auf Weihnachten warteten, um unter dem Schnee den Rauch von vielen anheimelnden Feuern aufsteigen zu lassen. Er betrachtete die Gegend, die bei jeder Straßenbiegung leise von ihrem ruhigen Glück erzählte, dieses arme Land, das keinen Reichtum brauchte, dieses Land, das er nie gesehen hatte.
Er hatte es nie gesehen, und doch … Vierundzwanzig Jahre zuvor hatte er es zu Fuß durchquert, in der entgegengesetzten Richtung, die Angst im Nacken.
Er erinnerte sich nur an den Regen, an die Nacht, an den abstoßenden Modergeruch der verfallenen Scheunen am Saum der großen Wälder, wo er sich mit seiner Angst, seinem Hunger verkrochen hatte … Vor allem mit seinem Hunger: Drei Tage und vier Nächte hatte er fast nichts gegessen … Bis er die Grenze zu Savoyen erreicht hatte, wo er sich endlich offen zeigen konnte, mehr als zweihundertfünfzig Kilometer von dem verfluchten Ort entfernt, wo er sich in einer bestimmten Nacht im September besser nicht aufgehalten hätte. O ja, sie hatte ihn durch seine Angst hindurch geleitet, diese schmucke Handwerksgesellen- tracht, die sich jetzt in einer Vitrine in seinem Schloß in Saint- Chély befand. Der schwarze, in den Regengüssen verfilzte Umhang … Den Gesellenhut, der
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