Das ermordete Haus
durch den funkelnden mineralischen Einschluß im Fels am Grund des Brunnens hinzog und sich dann zu einem Trichter verengte. Ein kleines Rinnsal floß unter den angewinkelten Beinen des Gerippes hindurch und verlor sich glucksend in der Öffnung des Trichters. Das Skelett war vollständig erhalten, da es durch die Kalkschicht, die sich auf die Knochen gelegt hatte, wie versteinert war. Es mußte sich um die Überreste eines jungen Mannes handeln: Das Gebiß war vollständig erhalten, und über seinen Rippen und seinen Schlüsselbeinen kreuzten sich die ebenfalls versteinerten Riemen eines Säbelgurtes. Ein breites, mit einer Schnalle versehenes Koppel, an dem eine Art von Patronentasche befestigt war, hing von seinen Hüftknochen herunter. Séraphin betrachtete das Skelett mit dem ruhigen Ernst desjenigen, der schon oft und anhaltend genug mit dem Tod Umgang gehabt hat, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Aber etwas erregte seine Neugier. Er fragte sich, was es wohl mit diesem rauhen Band auf sich habe, das sich völlig mit Kalk überzogen auf dem Boden hinschlängelte, bis hin zu einem gewaltigen runden Stein, um den es gewickelt war. Er bückte sich, um den Kalkmantel zu zerbrechen. Darunter kam eine unversehrte Peitschenschnur zum Vorschein. Er folgte ihr bis zu dem versteinerten Klumpen, den die Füße des Toten bildeten. Da begriff er, daß man diesen Toten in den Brunnen geworfen hatte, mit den Füßen zuerst, die mit dem Stein beschwert worden waren, und mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Ob er da wenigstens schon tot gewesen war?
Er schaute nach oben, sah die Öffnung des Brunnens und darüber das schwarze Loch des Himmels, an dem vier oder fünf Sterne funkelten. Alles da draußen gehörte zu La Burlière. La Burlière, die Wiege seiner Familie. La Burlière, wo es schon immer Monges gegeben hatte … Irgendein Monge hatte irgendwann diesen Mann in den Brunnen geworfen, oder, wenn er es nicht selbst getan hatte, so mußte er doch davon gewußt haben. Das Schwert der Gerechtigkeit, das Séraphin hochhielt, seitdem er die Schuldscheine gefunden hatte, bekam einen Sprung. Er stammte also aus einer Familie von Mördern oder zumindest von Mitwissern eines Verbrechens. Mit welchem Recht spielte er sich als Kämpfer gegen das Unrecht auf?
Er wollte mehr über dieses Geheimnis wissen. Er riß die versteinerte Patronentasche vom Gürtel, und durch diese heftige Bewegung fiel das Skelett mit einem Geräusch von im Sturm knickenden Ästen in sich zusammen. Der durch den vielen Kalk beschwerte Schädel rollte bis zum Eingang des Trichters, in dem das Rinnsal verschwand. Séraphin nahm die Patronentasche in die Hand, zog ein kleines Taschenmesser aus seiner Hosentasche und fing an, den Kalk abzukratzen, der den Dorn der Schnalle gefangenhielt. Die Patronentasche sah noch nach Leder aus. Sie war leer, bis auf eine unförmige Masse, die noch immer weich und klebrig war und nach Wachs roch. Auf der Suche nach irgend etwas stocherte Séraphin in dieser Masse herum. Die Klinge traf auf etwas Metallisches. Es war ein völlig von schwarzem Wachs überzogenes Geldstück. Unendlich geduldig – er hatte vergessen, daß er eigentlich etwas ganz anderes suchte – säuberte Séraphin es und kratzte das Wachs ab. Er hielt es ins Licht, untersuchte den Rand des Geldstücks und das Profil des Bürgerkönigs. Dieses Geldstück war identisch mit denen, die er in der Zuckerdose in der Mauer von La Burlière gefunden hatte. Also hatte sich dieses Verbrechen, dieser Raub, diese Angelegenheit vor mehr als siebzig Jahren abgespielt. Zwei Kriege hatten inzwischen stattgefunden. Sein Vater, der zur Regierungszeit Louis-Philippes noch nicht einmal auf der Welt gewesen war, konnte das Verbrechen nicht begangen haben, wenn er auch Nutzen daraus gezogen hatte. Und die Girarde, seine Mutter, gehörte nicht zu dieser Familie von Mördern. Und sie, die zu rächen er auf die Welt gekommen war, sie war es, die man umgebracht hatte.
Séraphin rutschte auf den Knien herum und vergaß das Skelett. Der Rest des geknoteten Seils, an dem er sich hinuntergelassen hatte, bildete ein Gewirr auf dem Boden, und darunter entdeckte er zwei flache Steine, die zusammengebunden waren, wozu man ebenfalls eine lederne Peitschenschnur verwendet hatte. Diese Schnur war noch nicht mit Kalk überzogen. Sie war schwarz, fast wie neu und noch geschmeidig. Séraphin schnitt sie mit seinem Taschenmesser durch. Die beiden Steine rutschten auf dem abschüssigen Boden
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