Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
fertig war, ist er weggegangen. Richtig, zur Straße hin. Bestimmt zehn Minuten lang war er weg. Ich hab das Fahrrad gesehen, ich hab die Seile gesehen, und jetzt, wo er nicht mehr da war, da hab ich auch die Karbidlampe auf der Bank stehen sehen. Und als er zurückkam, hatte er sich eine Eisenbahnschwelle auf die Schulter geladen, die er neben den Schienen gefunden haben mußte. Also, meine Lieben, wie soll ich es euch erklären? Ich hab gesehen, wie er mit der Schwelle daherkam. Ihr wißt ja, was das für ein Kerl war. So eine Schwelle konnte dem doch nichts ausmachen. Mich hätte das Ding glatt erdrückt, aber ihn … Und trotzdem … wie weit wird das wohl sein, von der Zypresse bis zum Brunnen? Vielleicht fünfzig Meter? Nun, hört mir gut zu: Er hat gut und gern fünf Minuten dafür gebraucht. Alle drei Meter blieb er stehen. Ich hab ihm genau ins Gesicht gesehen, hinter meinem Rosmarin. Er belauerte den Brunnen wie ein Jäger seine Beute. Er blieb auf einem Bein stehen, dann ging er weiter. Als er nah genug herangekommen war, hab ich seinen schiefen Blick gesehen. Er sah nämlich gar nicht zum Brunnen hin, sondern zum Waschtrog. Ihr wißt schon, der Waschtrog, der jetzt voll mit welkem Laub ist. Meine Güte! Er schaute ihn an, als ob gleich der Leibhaftige daraus hervorspringen würde. Er schien Angst zu haben. Aber schließlich ist er bis zum Brunnen gekommen. Seine Schwelle hat er auf den Brunnenrand gelegt. Dann hat er wieder gewartet, auf der Lauer, bereit, sofort zurückzuspringen, ja, genau so! Und dann hat er seine schwere Holzplanke aufgehoben, als ob das nichts wäre. Fast so, als ob er einen toten Ast aufheben würde, und dann hat er sie quer über den Brunnen gelegt. Ich hab ihm die ganze Zeit zugesehen. Und er hat stur auf den Waschtrog geschaut. Er machte irgendwie einen erstaunten Eindruck. Und dann … Stellt euch das mal vor. Er ist zum Waschtrog hin, hat seine Arme ins welke Laub gesteckt und angefangen, darin herumzuwühlen. Warum bloß? Woher soll ich das wissen? Vielleicht suchte er irgendwas … Jedenfalls hat er drei Minuten lang nichts anderes getan.«
    Nein, entgegen seinen Befürchtungen erschien die Girarde diesmal nicht aus ihrem mit Blättern angefüllten Sarg, um ihren Sohn daran zu erinnern, was sie von ihm erwartete. Die Luft blieb rein, als ob dieser unheilvolle Ort endlich von allem Bösen gereinigt worden, als ob die Straße, die zum Ziel führte, jetzt endlich frei wäre und man ihr nur noch ohne Umwege zu folgen hätte.
    Séraphin befestigte die Schwelle an beiden Enden auf dem Brunnenrand. Sorgfältig knotete er das Seil daran fest und ließ es in den Brunnen hinunter. Er zündete die Karbidlampe an und machte sie am Ende der Schnur fest. Er stellte die Flamme richtig ein. Dann beugte er sich über den Rand und ließ die Lampe Meter um Meter nach unten gleiten. Ihr weißes Licht beleuchtete das Brunneninnere aus gelbem Tuffstein und fiel manchmal auf den unheimlich aussehenden Stengel der Sommerwurz oder das bleiche Grün eines Venushaars. Séraphin ließ die Lampe immer langsamer hinunter und versuchte, die Dunkelheit unter der Lichtquelle zu durchdringen. Jetzt war der ganze Brunnenschacht erleuchtet. Unter der Lampe erschien plötzlich der Boden des Schachts. Séraphin ließ sie weiter hinunter, Zentimeter um Zentimeter, bis die Schnur schlaff wurde. Die Lampe hatte den Boden berührt. Sie erlosch nicht. Die Flamme brannte hoch und hell.

Séraphin machte die Schnur an einem Teil des schmiedeeisernen Brunnenaufsatzes fest. Er stieg über den Brunnenrand, hielt sich an der Schwelle fest und ergriff das Seil. Langsam, ohne jede Eile, Knoten um Knoten, kletterte er in die Tiefe. Er hatte berechnet, daß er ungefähr zehn Meter weit hinunter mußte. Von einer gewissen Tiefe an entdeckte er Ringe, die das Wasser an den Steinen zurückgelassen hatte. Sie waren stärker oder schwächer ausgeprägt, lagen höher oder niedriger. Die Ringe zeigten die guten und die schlechten Jahre an, die Jahre, in denen es viel, und die, in denen es wenig Wasser gegeben hatte.
    Das erste, was er sah, als er seinen Fuß auf den harten, hellen Felsgrund setzte, war ein von der weißen Flamme der Karbidlampe grell beleuchteter Totenschädel, der ihn aus seinen leeren Augenhöhlen anstarrte und ihn mit seinem noch vollständigen Gebiß angrinste. Ein Skelett kauerte am Boden, wie in Meditation versunken. Es war unter einem Gewölbe eingeklemmt, einer Art Höhle, die sich über zwei oder drei Meter

Weitere Kostenlose Bücher