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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Jahren tot ist, ist nicht älter geworden. Sie hat immer noch eine durchschnittene Kehle und …«
    Beinahe hätte er gesagt: »Und die beiden letzten Tropfen Milch, die für mich bestimmt waren.« Aber er hielt seine Worte rechtzeitig zurück.
    »Sie hat nicht verziehen«, fuhr er fort. »Und ich verzeihe auch nicht. Und Sie mit Ihrem Mann, der alles allein getan hat, Sie kommen vielleicht zu spät. Vielleicht«, wiederholte er, »vielleicht.«
    Er ging, ohne einen Gruß, ohne einen Blick, ohne ein Wort des Dankes für diesen Mann, der schwach war und reich.
    Ein Regen welker Blätter fiel um die Kirche hernieder. Die Nacht war vollends hereingebrochen.
    16
    »ICH hätte mir gleich Gedanken machen müssen«, sollte Monsieur Anglès später sagen, »es war das erste und das letzte Mal, daß er mich um einen freien Tag gebeten hat. Ich erinnere mich noch: Es war ein Montag.«
    Séraphin schlief unruhig und angespannt, unzusammenhängende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. »Ein Mann allein. Der Brunnen. Er hat etwas in den Brunnen geworfen. Und er war ganz allein, als er das Blutbad anrichtete. Und was war dann mit den beiden anderen?« Er war also völlig auf dem Holzweg gewesen. Er hatte zwei Unschuldige töten wollen. Oder vielleicht einen Unschuldigen und einen Schuldigen … Jetzt gab es nur noch einen, der die Wahrheit kannte: den einen, der am Leben geblieben war. Der Bäcker von Lurs: Célestat Dormeur. War er es also gewesen, der die beiden anderen umgebracht hatte? Aber warum? Der Brunnen … Der Mann, den der Handwerksgeselle gesehen hatte, hatte ein Päckchen gemacht und es in den Brunnen geworfen. Das mußte etwas gewesen sein, an dem man ihn hätte erkennen können, etwas Persönliches. In den Brunnen, dem er, Séraphin, sich nicht nähern konnte, ohne vom Geist seiner Mutter heimgesucht zu werden. Und außerdem war da wohl Wasser im Brunnen. Wieviel? Ein Meter oder zwei? Er hatte es nie über sich gebracht, sich über den Brunnenrand zu beugen. Wie sollte man auf dem Boden eines Brunnens etwas finden können? Und was konnte davon übriggeblieben sein? Nach vierundzwanzig Jahren! Er lag da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, im nächtlichen Peyruis beim hellen Plätschern des Brunnens. Er dachte an Marie Dormeur. Marie und krank – was für eine Ungerechtigkeit. Sie hatte so viel Lebenskraft besessen. Er nahm sich vor, sie in jedem Fall zu besuchen. Vielleicht würde es ihr guttun zu erfahren, daß er sich Sorgen um sie machte. Das verpflichtete ihn zu nichts. Sie wußte jetzt ja, daß er niemanden lieben konnte.
    Mit einem Ruck setzte er sich auf. Das Bild Maries, wie sie da auf dem Rand des Brunnens saß, als er sie beinahe hinunter- gestoßen hätte, erinnerte ihn an etwas Wichtiges. Eines Tages hatte Monsieur Anglès in seinem Beisein mit einem Kollegen, einem Landvermesser, gesprochen. Séraphin vergaß nie etwas, das Monsieur Anglès sagte, und an diesem Tag hatte er gesagt: »Die Brunnen hier sind fast alle versiegt. Als 1910 die Minengesellschaft von Sigonce ihre Fördermenge erhöht hat, wurden durch die neuen Stollen, die man gegraben hat, viele Wasseradern und Siphons im Gestein angeschnitten, so daß fast alle Brunnen versiegt sind.«
    Schon am folgenden Morgen bat Séraphin Monsieur Anglès um einen freien Tag und fuhr mit dem Fahrrad nach Forcalquier. Auf dem Markt kaufte er fünfundzwanzig Meter kräftiges Seil, fünfzehn Meter Schnur und beim Eisenwarenhändler eine Karbidlampe.
    Die Leute, die auf den Bus warteten und ihn an diesem Morgen mit einer Seilrolle über der Schulter vorbeikommen sahen, konnten es sich nicht verkneifen, ihm zuzurufen: »He, Séraphin! Willst du dich aufhängen?«
    »Vielleicht …« rief Séraphin zurück.
    Zur Mittagszeit war er bei La Burlière. Die Tricanote, die ihre Ziegen in den Lichtungen der Eichenhaine hütete, sagte später, sie habe sich in diesem Augenblick tatsächlich gefragt, ob er sich aufhängen wollte. Er habe fast eine Viertelstunde regungslos unter der Zypresse gestanden und den Brunnen betrachtet. Sie hatte sich hinter einem großen Rosmarinbusch versteckt und von da aus alles beobachtet, was er tat.
    »Er hat sich auf die Bank unter der Zypresse gesetzt«, sagte sie, »er hat sein Seil entrollt und angefangen, Knoten hineinzumachen, in gleichmäßigen Abständen. Er machte etwa jeden halben Meter einen Knoten und zog ihn mit einem Ruck fest. Ich konnte ihn gut sehen … Das hat ihn ganz schön viel Zeit gekostet, und als er damit

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