Das ermordete Haus
angesehen. Und wenn ich am nächsten Tag von den Gendarmen schief angesehen worden wäre …«
Séraphin spürte, daß dem Mann bei diesem Gedanken noch heute der Schreck in die Glieder fuhr.
»Die Angst, die ich nun empfand, hatte nichts mehr mit dem Entsetzen zu tun, das mich beim Anheben der Falltür ergriffen hatte. Nun war es die Angst vor der bürgerlichen Gesellschaft, die mich umtrieb, die Angst vor dem Schafott. Wer hätte mir geglaubt?«
Der Mann hielt einen Augenblick inne. »Also habe ich meinen Stock und meinen Hut und meinen Tornister genommen«, fuhr er fort. »Ich habe die Reste des Brotes eingesammelt, bis zum letzten Krümel (sie kamen mir später sehr zustatten). Ich habe die Postsäcke sorgfältig aufgeschüttelt, auf denen ich gelegen hatte. Ich bin durch das Stalltor hinausgegangen, durch das kleine Türchen unten im großen Tor. Ich bin wie ein Irrer ins Freie gerannt, wie der Irre, der ich war. Und dann fand ich mich im Mondlicht wieder. Ich habe den Brunnen gesehen, vielleicht in fünfzig Metern Entfernung, und vor dem Brunnen stand der Mann. Er kehrte mir den Rücken zu. Aber ich hatte den Eindruck, daß er mich gehört hatte, daß er mich gleich entdecken würde. Da habe ich mich hinter einen Karren geworfen. Ich habe gesehen, wie er sich bückte, um etwas aufzuheben. Er machte etwas mit seinen Händen, ein Paket, so schien es mir. Und dann habe ich eine Handbewegung gesehen. Er hat etwas in den Brunnen geworfen. Etwas Schweres … Nein, ich war doch nicht fünfzig Meter entfernt, eher dreißig. Ich hörte das Plumpsen.«
»Ein einziger Mann …« wiederholte Séraphin.
»Ja, er war ganz allein. Und ich habe ihn nicht gesehen. Das Mondlicht spielte mit dem Schatten, den sein Hut warf. Ich bin sicher, daß er keinen Bart trug. Sein Kinn schimmerte bleich. Er ging gebeugt, ein bißchen schwerfällig. Ich kann es nicht beschwören, aber … Es schien mir, als hätte ich ihn stöhnen hören, es schien mir, als weinte er.«
»Und es war derselbe, der meinen Vater aufgespießt hat?«
»Ja. Da bin ich sicher.«
»Und sonst war niemand da?«
»Nein, niemand.«
»Und er hat etwas in den Brunnen geworfen?«
»Ja, und dann ist er weggegangen, mit hängenden Schultern, in Richtung Eisenbahnbaustelle. Da bin ich losgerannt, geradewegs nach Norden. Der Geruch der Berge hat mir den Weg gewiesen. Ich bin gelaufen … Dann bin ich auf diese Kirche gestoßen. Ich weiß immer noch nicht, wie sie heißt.«
»Saint-Donat«, sagte Séraphin ausdruckslos.
»Im Gebet habe ich um Rat gefragt«, sagte der Mann. »Und die Antwort lautete nur: Fliehe! Und das hab ich dann auch getan.«
»Ein Mann allein«, murmelte Séraphin. »Und Sie wissen nicht, wie er aussah?«
»Ich bitte Sie, vierundzwanzig Jahre«, sagte der Handwerks- geselle. »Ich habe mein Leben gelebt. Meine Frau ist vor kurzem gestorben. Nein, ich weiß es nicht. Aber wenn ich eine Beschreibung liefern könnte, was würden Sie damit anfangen? Wie sieht er nach vierundzwanzig Jahren aus, dieser Mann? Von außen! Und von innen? Und dann der Krieg? Ist er überhaupt noch am Leben?«
»Wenn er tot wäre«, sagte Séraphin, »würde ich es hier spüren.« Er legte seine Hand flach auf die Brust und verstummte. Der Mann betrachtete ihn, wie er da im Halbdunkel stand, bewegungslos und immer noch an die Säule gelehnt wie ein in die Säule eingemeißeltes Relief. »Ein Vierteljahrhundert«, sagte der Mann müde. »Sie sind zu jung, um zu wissen, was das bedeutet, ein Vierteljahrhundert … Und …«
Er hielt erstaunt inne. Es kam ihm vor, als hörte er Séraphin Monge im Halbdunkel aus vollem Halse lachen. Jedenfalls richtete dieser sich auf, kehrte dem ehemaligen Gesellen den Rücken und ging schweigend auf den Rest des Tages zu, der da draußen vor dem Vorbau verdämmerte.
Der Mann folgte ihm. »Gibt es nichts, was ich für Sie tun kann?« sagte er zögernd. »Sie müssen wissen … Wie soll ich mich ausdrücken … Ich bin reich …«
Er hätte sich auf die Zunge beißen können dafür, daß er diese Worte ausgesprochen hatte. Soeben war ihm die Zuckerdose mit den Louisdors wieder eingefallen.
»Und ich«, sagte Séraphin, »ich bin noch ärmer, als Sie glauben. Als ich drei Wochen alt war, hat man mir meine Mutter genommen. Vierundzwanzig Jahre lang mußte ich auf sie verzichten. Alles, was mir von ihr geblieben ist, ist ein Alptraum, der mich beherrscht. Sie meinen, das sei lang, vierundzwanzig Jahre? Aber sie, die seit vierundzwanzig
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