Das ermordete Haus
Stunden vor ihrem Tod gewesen sein): ›Der Séraphin‹, hat sie gesagt, ›der arme Kleine. Stellt euch vor, sogar er! Bei seiner Geburt war er dem Zorme wie aus dem Gesicht geschnitten! Wie aus dem Gesicht geschnitten, sag ich euch. Ich wußte nicht, wie ich ihn halten sollte, um zu verhindern, daß Monge etwas merkt!‹«
»Ein einziges Mal«, zischte Zorme wie ein Schlauch, der seine Luft verliert. »Ich wollte keine Schande über sie bringen. Ich wollte sie nicht ins Gerede bringen. Und als ich dich dann gesehen habe, als ich dich gesehen habe …«
»Sagen Sie es ihm, Zorme, jetzt wo Sie nichts mehr zu verlieren haben. Sagen Sie ihm, warum Sie meinen Vater und Gaspard Dupin umgebracht haben. Sagen Sie ihm die Wahrheit.«
»Ich wollte nicht, daß du zum Mörder wirst. Als ich die Papiere bei dir entdeckt habe, die du gefunden hattest, wußte ich, was du tun würdest. Also hab ich es für dich getan. Wenn ich dir die Wahrheit erzählt hätte, hättest du deine Mutter verachtet. Ich habe ihr hoch und heilig versprechen müssen … Ich wollte, daß sie makellos für dich bleiben sollte. Und ich wollte, daß wenigstens du dem Schicksal entgehst.«
»Charmaine …« sagte Séraphin.
»Nein. An jenem Abend im Park hat sie mich nicht erkannt. Doch ich hab sie zu dir gehen sehen. Durchs Fenster habe ich beobachtet, wie sie die Zuckerdose herausnahm. Sie hatte dich in der Hand. Du warst ihr ausgeliefert.«
»Und Marie?« murmelte Séraphin.
»Es gibt keine Marie.«
»Und Marie?« schrie Séraphin.
Er ging auf das Bett zu mit seinen lehmverschmierten Händen, die noch von den Nadelstichen bluteten.
»Sie ist mir dazwischengekommen«, sagte Zorme. »Sie hat mich wohl gesehen, damals, als ich Charmaine bei dir über- raschte. In ihrem Fieberwahn sagt sie dauernd vor sich hin: ›Ich habe jemanden gesehen … Ich muß es sagen …‹ Und schließlich, wo schon ihr Vater nicht zu erwischen war … Der hat zu gut aufgepaßt … Da habe ich gedacht, die Tochter würde es auch tun … Du würdest, wenn erst einmal Untergang und Trauer über alle drei Familien gekommen wären, dich endlich zufriedengeben …« Er stützte sich mit letzter Kraft auf seine Ellenbogen, wobei ihm ein lautes Ächzen entfuhr. »Bist du nun endlich zufrieden, Racheengel?« Er richtete seinen funkelnden, noch sehr lebendigen Blick auf Séraphin.
»Er redet wirres Zeug«, sagte Rose.
»Schon zu spät«, röchelte Zorme, »zu spät für Marie. Sie wird sterben. Jetzt kann ich nicht mehr zurück.« Mit unbeweglichem Gesicht murmelte er noch etwas, während er in seine Kissen zurücksank. Rose sollte später schwören, sie habe ihn sagen hören: »Wenn ich … zur Hand hätte …«
»Vater hin, Vater her …« sagte Séraphin. Er dachte nur noch an Marie. Er versetzte Rose einen letzten Stoß, der sie mehrere Meter zurücktaumeln ließ. Er beugte sich über das große Bett.
Aber ein anderer war schneller gewesen. Zormes Mund stand offen, die Nasenflügel lagen eng am Nasenbein an und bildeten ein spitzes Dreieck. Das Fleisch unter seinen Gesichtszügen war eingefallen und hatte sich schlaff über die Knochen des Schädels verteilt. Seine Augen blickten jetzt auf eine andere Welt.
»Du siehst«, sagte Rose sanft, »du bist nicht zum Rächer geboren.«
Séraphin wandte sich ab. Er fühlte sich nackter und ärmer als damals, als er aus dem Krieg zurückgekehrt war, mit so vielen Toten im Gepäck. Doch Maries Name wies ihm den Weg.
Im Vorbeigehen schaute er flüchtig auf das Bild seiner Mutter auf dem Kaminsims. Er deutete eine sanfte Berührung ihres Gesichtes an. Aber es blieb bei der Andeutung. Seine Liebe zu ihr begann schwächer zu werden.
Patrice sah ihn mit versteinertem Gesicht aus dem Haus treten. Aus Rücksicht hatte sich Patrice bisher noch nicht gezeigt. Er kam gegen sein Glücksgefühl nicht an. Er begann, sein mißgestaltetes Gesicht mit Roses Augen zu sehen. Sie ließ es ihn immer mehr vergessen. Den verstörten Séraphin hätte er ohnehin nicht trösten können. Dieser schaute ihn an, ohne ihn wahrzunehmen.
Er stieg auf sein Fahrrad. Über seinen Lenker gebeugt, fuhr er los, ohne sich noch einmal umzusehen.
17
SEIT einer Woche kam in Lurs schlecht gebackenes Brot auf den Tisch. Der Célestat hatte seine Gedanken nicht mehr bei der Arbeit. Alle hatten Verständnis dafür. »Nun denken Sie mal«, hieß es, »was kann man da schon anderes erwarten, wo doch seine Kleine so übel dran ist …« – »Geht es ihr schlechter?« –
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