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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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nicht mehr daran hindern! Verstehst du denn nicht, daß er ein altes Lügenmaul ist? Es stimmt nicht, was er dir gesagt hat. Wir standen am Fenster, Patrice und ich! Wir haben alles gehört. Wir waren bei dir: Wir haben die Papiere gefunden. Jetzt wissen wir alles. Fast alles! Aber du, du weißt es nicht! Es ist viel schlimmer, als du glaubst! Du darfst ihn nicht töten!«
    Séraphin war stehengeblieben. Er fühlte den Lauf der Waffe in der Magengrube, aber das war es nicht, was ihn aufhielt. Er machte sich klar, daß hier die Tochter Didon Sépulcres, der von den Mühlsteinen zermalmt worden war, mit ihm sprach. Und wenn sie alles gehört hatte, wußte sie jetzt, wer der Mörder ihres Vaters war. Und wenn sogar sie ihn bat, von seinem Vorhaben abzulassen …
    Rose stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und ließ die Waffe sinken.
    »Du und deine geliebte Wahrheit«, sagte sie, »wie lange rennst du schon hinter ihr her! Also gut, hör sie dir an!«
    »Sag ihm nichts«, rief Zorme mit zitternder Stimme. Er hatte sich im Bett aufgesetzt und die Decken zurückgeworfen, und wie er so im Nachthemd dasaß, wurde deutlich, daß der Tod ihn schon für den Sarg zurechtgestutzt hatte.
    »Da kenn ich gar nichts!« sagte Rose aufgebracht. »Die Wahrheit wird er erfahren!«
    Sie ging zum Kamin. Mit dem Lauf der Waffe hob sie den Trauerflor hoch, der den Gegenstand verhüllte, der einsam auf dem Kaminsims stand. Es war ein altes, gerahmtes Foto. Das traurige, verschwommene Gesicht einer jungen Frau aus vergangener Zeit wurde sichtbar. Sie hatte helle Augen; das linke schielte ein wenig nach oben.
    Dieses Bild bewirkte, was der Gewehrlauf nicht vermocht hatte: Séraphin wich drei Schritte zurück. Eine Art Frösteln lief unaufhaltsam in feinen Wellen über seine Kopfhaut und hielt ihn fest wie ein Schraubstock. Sein riesiger Körper erzitterte wie ein Baum, an den man die Axt legt. Dreimal fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht. Aber das Bild mit dem klaren Blick, dem leicht schielenden Auge, war immer noch da: gegenständlich. Man konnte es anfassen, es umdrehen, man konnte es küssen, dort, wo die Lippen waren. Es war dasselbe Gesicht, es waren dieselben Lippen, die so oft vor ihm Gestalt angenommen hatten, es war dieser Mund, in dem man winzige Zähne erkennen konnte, obwohl er kaum geöffnet war, dieser Mund, der so viele Dinge zu sagen hatte, die er nicht hören wollte. Es war der Kopf, der das welke Laub neben dem Brunnen zum Rascheln brachte.
    »Meine Mutter …«
    Séraphin hauchte diese Worte nur. Sie versetzten ihn in Schrecken. Rose sah ihn erstaunt an.
    »Woher weißt du das?« fragte sie. »Du hast sie doch noch nie gesehen.«
    Séraphin schüttelte stumm den Kopf. Er hörte kaum zu. Das Geheimnis, das es ihm erlaubt hatte, seine Mutter kennen- zulernen, konnte er mit niemandem teilen. Er begann zu begreifen, was sie ihm unbedingt hatte sagen wollen und wofür er taub gewesen war.
    »Für mich«, sagte Rose, »war sie die Kommunionskameradin meiner Mutter. Als sie mir von dem Verbrechen erzählt hat, meine Mutter, da hat sie ein Foto rausgesucht, auf dem beide drauf waren, so mit sechzehn etwa. Sie hat mir so viel von ihr erzählt, von der Girarde …«
    Séraphin sah auf den Trauerflor, der neben dem Kamin auf den Boden gefallen war und einen großen schwarzen Fleck auf den roten Fliesen bildete.
    »Meine Mutter«, sagte er wieder. »Verstehst du nun?« sagte Rose sanft.
    Zorme war flach ins Bett zurückgesunken. Das Geräusch des löchrig gewordenen Dudelsacks, aus dem die letzte Luft pfeift, wurde stärker und stärker.
    »Sie hat mich vor ihm geliebt …« sagte er. »Und ich hab sie auch geliebt. Und als ihr klar wurde, was er für ein roher Kerl war, da war es zu spät. Ein einziges Mal«, keuchte er, »ein einziges Mal haben wir Trost beieinander gefunden. Ein einziges Mal. Nie wieder … niemals wieder hab ich eine andere Frau angesehen.«
    »Alle wußten es«, sagte Rose.
    »Ich wollte keine Schande über sie bringen«, sagte Zorme.
    »Alle«, bekräftigte Rose. »Und an Schande hat es nicht gefehlt! Meine Mutter hat es oft genug gesagt: Ein Kind der Liebe! Die Hebamme war es, auf ihrem Sterbebett. Sie redete wirres Zeug. Für vier oder fünf verdächtige Ähnlichkeiten im Dorf hat sie nur die Bestätigung geliefert. Aber bei dir wäre niemand auf die Idee gekommen. Du hattest keine Ähnlichkeit mit irgend jemandem hier. Darauf hat uns erst die Hebamme gebracht. Sie hat gesagt (das wird wohl zwei

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