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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Hände zu Fäusten gegen das Übel geballt. Noch in ihrem Fieberwahn, noch in ihrer Schwäche war in ihrem Innersten eine unglaubliche Kraft zu spüren, ein Leben, das sich zu einer kleinen Kugel zusammenzog, das sich nicht ausreißen lassen wollte, das die Verführungskünste des Todes zurückwies, das bis zur Erschöpfung mit dem Gegner rang.
    Marie hatte alle ihre Rundungen verloren. Dort, wo sie lag, war kaum eine Aufwölbung der Decke zu erkennen. Marie hatte ihre Haare verloren. Von ihrem Gesicht waren nur noch die weiße Stirn und die etwas abstehenden Ohren zu sehen. Ihre Augen waren nicht geschlossen. Seitlich trat das Blau zweier immer noch wachsamer Augäpfel hervor, die bereit schienen, in einem letzten Blick aus ihren Höhlen zu treten. Maries Mund war halb geöffnet; ihr unhörbarer Atem verbreitete einen unerträglichen Geruch. Ihre Finger waren gekrümmt wie die einer geizigen Alten und kratzten wie zappelnde Spinnenbeine an der Decke.
    Séraphin schaute sich gründlich im Zimmer um. Auf der Marmorplatte der Kommode waren die sorgfältig aufgestellten Figuren aus Meißner Porzellan zu sehen. Am Fuße des Bettes entdeckte er – ohne sich darüber zu wundern – seine eigene Wiege, und darin lag, wie der Kopf eines mißgebildeten Kindes, das Werk der Standuhr, die sie ihm auf La Burlière entrissen hatte, um sie mit nach Hause zu nehmen.
    Am Kopfende stand einer jener Stühle aus gelbem und grünem geflochtenen Stroh, die hierzulande den Luxus der Armen darstellen. Mit angehaltenem Atem nahm Séraphin auf ihm Platz, nachdem er ihn im rechten Winkel zum Bett ausgerichtet hatte. Er streckte seine Hände den erbärmlichen Pfötchen entgegen, die sich unaufhörlich bewegten, als wühlten sie in der Erde. Er umschloß sie mit seinen Händen. Sie glühten unter einer kalten, schwammigen Haut. Zuerst spürte er, wie sie sich mit einer Art von Bösartigkeit gegen seine Umklammerung wehrten. Er hatte das Gefühl, als würden Katzenkrallen sich ins Fleisch seiner Handflächen bohren. Aber nach und nach wurden aus bösen erbarmungswürdige Hände. Sie teilten demütig all das mit, was Marie, geknebelt durch ihre Krankheit, wie sie war, ihm nicht sagen konnte.
    Er sah auf zu dem Kruzifix, das ebenfalls aus Meißner Porzellan war, und zu dem daran befestigten Becherchen, in dem ein geweihter Buchszweig steckte. Lange Zeit starrte er auf diese alberne Nippesfigur, und sein Gesicht nahm einen besorgten, eindringlich fragenden Ausdruck an.
    Lurs versank im Dunkel, und Séraphin, mit Marie im Raum allein, fühlte sich wie ein Hälmchen Stroh, in dem kaum mehr Leben war als in der Todgeweihten. Aber er ließ ihre Hände nicht los. Aber er ließ nicht davon ab, an sie zu denken und nur an sie, nur ihr sein Mitleid entgegenzubringen, nur auf ihren Atem, auf die unendlich hinfällige Bewegung zu achten, die er schließlich doch bemerkt hatte, ein Heben und Senken, auf dem die leichte Decke wie eine Marmorplatte zu lasten schien.
    Durch das Fenster, dessen Läden offenstanden, sah man, wie die Nachtstunden ihre Bahn in das Schwarz des Himmels schrieben, wie der Große Bär sich fügsam mit dem Rücken auf die Berge legte. Hügel und Dörfer, aus denen hie und da ein Licht aufleuchtete, lagen vor diesem Fenster im Schlaf und würden bald heiter unter der Sonne erwachen …
    Zusammen mit dem Fenster ließ er auch das Kreuz aus Porzellan nicht aus den Augen. Er war voll Zuversicht. Er ließ keinen Zweifel in sich aufkommen – was wäre geschehen, wenn er gezweifelt hätte? –, aber der Gedanke, daß die ganze Last seines stillen Gebets allein auf diesem Kruzifix, auf diesem jämmerlichen Fürsprecher, ruhte, ängstigte ihn. So kämpfte er die schlimmen Stunden der Nacht hindurch gegen den Tod, mit den Waffen, über die er verfügte.
    Und manchmal war der üble Geruch, der aus Maries Mund aufstieg, nicht mehr zu spüren, und er glaubte, sie habe ihr Leben ausgehaucht. Und manchmal geriet ihr Puls unter seinen Händen aus dem Takt, versuchte wegzulaufen, versuchte, so schien es, einem dringenderen Ruf zu folgen. Dann verstärkte er den Druck auf diese erbärmlichen Pfötchen in der Wärme des Nests, das seine Hände ihnen bereiteten, und stand mit seiner ganzen Kraft Marie in ihrem Kampfe bei. So ging es die Nacht hindurch, bis der Große Bär dort oben über dem Pas de la Graille, über dem Tal des Jabron, sich wieder aufzurichten begann. Da sank Séraphin der Kopf auf die Brust. Wie er so auf seinem Stuhl lag, Maries Hände

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