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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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genau nachgebildet. Ein luxuriöses Spielzeug, das über hundert Jahre alt sein mußte. Es war hochbeinig und war mit glänzenden Rädern an Kopf- und Fußende versehen. Es stand auf einer Platte aus matt glänzendem Metall, offenbar Blei.
    In diesem Bett lag eine Puppe. Sie maß von Kopf bis Fuß mehr als dreißig Zentimeter. Es war eine plumpe Figur aus Lehm, mit einem langen Rumpf, dünnen Beinchen und langgestreckten Affenarmen. Auf dem Rumpf hatte man jedoch sorgfältig zwei kleine Wölbungen modelliert, die die Brüste darstellen sollten. Genau zwischen diesen Brüsten steckten in sternförmiger Anordnung sieben mit verschiedenfarbigen Steinen verzierte Krawattennadeln in dem Lehmkörper. Der ein wenig zur Seite geneigte ovale Kopf erinnerte nur durch seine Form an den Kopf eines Menschen. Er hatte weder Augen noch Nase, noch Mund. Daß es ein Kopf war, sah man an einer einzelnen Nadel, die in der Mitte der Stirn steckte. Auf dieser Nadel, die aus der Puppe ragte, war ein Ring befestigt, der wie ein Diadem auf der unförmigen Stirn ruhte, sie sogar ein wenig verformte und sich in den weichen Lehm eindrückte. Der in den Ring eingelassene Aquamarin sammelte das diffuse Licht der untergehenden Sonne, von dem das Zimmer durchflutet wurde, und strahlte es gebündelt in Séraphins blaue Augen zurück.
    Wo hatte er diesen Ring schon einmal gesehen? Unter welchen Umständen? Hatte er sich jemals für einen Ring interessiert? Und doch, diesen Ring hatte er schon einmal voll Bewunderung angesehen: dieser Ring hatte ihm schon einmal ein Zeichen geben wollen. Charmaine? Nein. Charmaine hatte nie einen Ring getragen. Charmaine hatte ihr ganzes Leben lang darauf geachtet, ihre Seele niemandem zu offenbaren.
    »Marie!« rief Séraphin leise aus.
    Er sah sie jetzt wieder vor sich, jugendlich frisch und verführerisch, mit baumelnden Beinen auf dem Rand des Brunnens sitzend, in den er sie stürzen wollte. Und Marie hatte sich mit der Hand am Brunnenrand festgehalten. Und an dieser Hand trug sie diesen Stein, der jetzt an der Lehmpuppe funkelte, die nach Verwesung aussah und von Nadeln durchlöchert war.
    »Marie!«
    Séraphin hörte in seinem Innern undeutlich die ängstlich geflüsterten Worte widerhallen, die er in den letzten Tagen und noch an diesem Morgen (ja, noch an ebendiesem Morgen war es gewesen) von den Leuten aufgeschnappt hatte, die ihm auf dem Markt von Forcalquier begegnet waren. Unkenrufe, die Marie galten: »Die arme Marie … Die Tochter des Bäckers aus Lurs.« – »Sie hat Typhus.« – »Man kühlt ihr den Kopf mit Eis.« – »Man hat sie punktiert.« – »Lang wird sie es nicht mehr machen.« – »Eine Schönheit! Es ist wirklich ein Jammer!«
    »Marie«, flüsterte Séraphin.
    Er nahm den Aquamarin an sich und steckte ihn in seine Tasche. Er griff nach der Tonpuppe. Er zerdrückte sie mit seinen riesigen Händen. Der Ton klebte an seinen Fingern. Die Nadeln, mit denen die Puppe gespickt war, bohrten sich in sein Fleisch, ohne daß er es fühlte, genau wie die spitzen Reißzähne der Hunde, die er auch nicht gespürt hatte, weil er von der gleichen rasenden Wut ergriffen war. Endlich war ihm die Kraft zugewachsen, diesem Sterbenden den Rest zu geben. Er warf die alberne Puppe auf den Boden und trampelte wütend auf ihr herum. Er ging auf das Bett zu. Der Schemel, auf den er sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, gesetzt hatte, fiel nach hinten. Da hörte er leichte, schnelle Schritte hinter sich. Jemand stellte sich ihm in den Weg. Es war Rose Sépulcre.
    »Nein«, sagte sie. »Du nicht! Du darfst ihn auf keinen Fall töten!«
    »Verschwinde«, knurrte er.
    Er wollte sie am Handgelenk packen, um sie aus dem Weg zu ziehen. Rennend, tänzelnd, herumwirbelnd entwischte sie ihm. Blitzschnell gelangte sie zu der Stelle zwischen der Mauer und der Seitenwand des Kamins, wo man, wie in jedem Haus hier, durch bloßes Tasten auf den Kolben einer Waffe stoßen konnte. Sie nahm Zormes Gewehr von der Wand und erkannte schon am Gewicht, daß es geladen war. Sie richtete es auf Séraphins Brust, stieß ihm den Lauf in die Rippen. Sie wich Schritt für Schritt zurück, denn Séraphin ging schwer atmend weiter.
    »Bleib stehen!« sagte sie. »Du darfst es nicht tun. Du würdest es dein Leben lang bereuen.«
    Er legte die Hand auf den Lauf, um ihn beiseite zu schieben. »Hör wenigstens, was ich dir zu sagen habe!« bettelte sie. »Hinterher kannst du ihn immer noch töten, wenn du es dann noch willst! Ich werde dich

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