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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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immer noch in den seinen, die sich wie ein Kelch geöffnet hatten, da war er nur noch ein armer Mann, den die Müdigkeit überwältigt hatte und der nun schlief und vergaß.
    Das beunruhigende Gefühl, es sei jemand ins Zimmer getreten, weckte ihn. Noch war es Nacht. Maries Hände lagen immer noch in den seinen, und in ihnen machte sich der Neuankömmling bemerkbar. Der unregelmäßige, wie verrückt hüpfende Puls war dem schön gleichmäßigen Gang eines Uhrwerks gewichen, das dumpf pochte, dessen Ausschläge jedoch zusammen mit dem Augenblick unbeweglicher Stille, der zwischen ihnen lag, einen erhabenen Rhythmus bildeten.
    Séraphin schaute auf in Maries Gesicht. Sie hatte die Augen geöffnet und lächelte ihm zu. Das Leben strömte mit unglaub- licher Schnelligkeit in sie zurück. Von Minute zu Minute gewann sie Form und Farbe zurück. Die ganze Luft des Raums reichte nicht mehr hin für ihre plötzlich befreiten Lungen.
    Da ging Séraphin zum Fenster und öffnete es ein wenig, damit sie den Geruch des Todes, den sie zurückgelassen hatte, nicht wahrnehmen sollte. Marie dankte ihm mit einem langen Seufzer. Er kehrte zu ihr zurück. Er zog den Aquamarinring aus seiner Tasche und steckte ihn ihr an den Zeigefinger.
    Er legte einen Finger über seine Lippen. Rückwärts, auf Zehenspitzen, verließ er den Raum. Er stieg die Treppe hinunter. Die Clorinde hatte sich nicht gerührt; noch immer war sie auf der Bank zusammengesunken, noch immer hingen die alten Haare ihr wirr vom Kopf. Séraphin tippte ihr auf die Schulter.
    »Gehen Sie nur hinauf«, sagte er, »sie lebt.«
    Er trat hinaus. Der Morgenglanz lag auf der Dorfstraße. Er holte sein Fahrrad und fuhr die steile Straße hinunter, die aus Lurs hinausführt. Er sah die klagenden Zypressen im Morgen- wind. Zum letzten Mal überquerte er den sauber hergerichteten Platz, auf dem einst das Haus stand, das er nie besessen hatte. Er warf einen Blick auf den Brunnen, auf den Waschtrog. Nie mehr würde seine Mutter ihn heimsuchen. Seine Liebe zu ihr war von ihm abgefallen wie das Laub eines Baums im Herbst.
    Er stieg auf sein Rad. Er begann, in die Pedale zu treten. Kein einziges Mal mehr hat er sich umgesehen.
    Epilog
    ICH habe die Durance überquert, der nun in der Zwangsjacke ihrer Staudämme das Singen vergangen ist. Ich habe das Dorf betreten. Es hält sich recht gut unter dem Schutzschild seiner Dächer, und seine Straßenzüge verlaufen in tiefem Schatten.
    Den ersten Alten, der mir über den Weg lief, habe ich nach Marie Dormeur gefragt. Sie hieß später anders, aber der Alte da kannte sicher ihren früheren Namen.
    »Gehen Sie einfach unter den Glocken durch, hinter der Kirche. Die erste Straße rechts. Sie sehen es gleich, es ist ein grünes Haus, mit einem Laubengang und einer Terrasse. Um diese Zeit sitzt die Marie sicher im Freien.«
    Hinter all den lila Fuchsien, den Begonien und Geranien war das Haus kaum zu sehen. Marie schleppte eine grüne Gießkanne und war gerade mit dem Blumengießen fertig geworden. Sie nahm ihren Klappstuhl und ihre Zeitung unter den Arm und stieg schwerfällig Stufe um Stufe die Treppe hinunter, wobei sie sorgfältig darauf achtete, wohin sie ihren Fuß setzte. Dann richtete sie sich im Halbschatten häuslich ein.
    Ich wußte, daß sie auf die zweiundachtzig zuging, denn an jenem klaren Morgen, an dem ich sie für Sie zurückgelassen habe, lieber Leser, nachdem Séraphin weggegangen war, mußte sie achtzehn oder neunzehn Jahre alt gewesen sein. Ich wußte auch, daß sie einen Mann von gewöhnlichem Zuschnitt geheiratet hatte, dem wie ihr eine schöne Kindheit beschieden gewesen war. Sie hatte wohlgeratene Kinder von ihm gehabt, die später in alle Welt hinausgeschwärmt sind, wie es heutzutage Mode ist.
    Und nun saß sie allein auf ihrem Klappstühlchen. Ihre Knöchel über den Pantoffeln waren aufgrund kleinerer Kreislauf- beschwerden geschwollen, und durch die dicken Brillengläser, die sie nach ihrer Staroperation trug, blickte sie auf die Leute, die vorbeikamen.
    Die Vergangenheit, in der sie voller Leben war, ist längst im Schlamm der Zeit versunken. Erinnert sie sich überhaupt noch daran? Schwer zu sagen! Augen, aus denen man die Linse entfernt hat, können kein Bedauern und keine Schwermut mehr ausdrücken. Sie lachen nur noch.
    Sie strickte munter an einem Bettjäckchen. Sie sah mir zu, wie ich näher kam. Ich sah den Aquamarinring glänzen, den Séraphin ihr angesteckt hatte. Das Fleisch um den Ring herum zeigte die

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