Das ermordete Haus
Hände, um sich Mut zu machen. Auf dem Mauerrest stehend hob er die Spitzhacke und ließ sie genau vor sich heruntersausen. Die Hacke stieß ins Leere und drang bis zum Stiel in die Wand. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre der Bahn, die sein Werkzeug beschrieben hatte, kopfüber gefolgt. Verwundert ließ er es los. Er sprang von der Mauer ins Innere des Raumes. Er berührte das Eisen der Hacke, das zwischen zwei Steinen eingeklemmt war. Er zog einen von den beiden heraus. Nachdem er ihn aus dem feuchten Mörtel gelöst hatte, entfernte er vorsichtig den zweiten. Eine Gipsschicht kam zum Vorschein. Sie wirkte fast wie neu, auf jeden Fall war sie von anderer Art als der Mörtel und der gelöschte Kalk, die alle Mauern von La Burlière zusammengehalten hatten. Er ergriff einen kleinen Hammer und begann, diesen Gips herauszuschlagen. Beim dritten Schlag verschwand das Eisen des Werkzeugs wiederum im Leeren. Die herunterfallenden Gipsbrocken hallten dumpf auf einem metallischen Gegenstand wider. Mit bloßen Händen legte Séraphin die Kante eines waagrecht eingemauerten Ziegelsteins frei, dann die eines weiteren. Diese beiden Ziegelsteine befanden sich genau an der Stelle, an der sein Vater die Blutspuren hinterlassen hatte, und Séraphin mußte sich gegen diese Stelle stützen, um sie herauszuziehen. Als er sich entfernte, um die Ziegelsteine auf den Schutthaufen zu werfen, erhellte die sinkende Sonne den Boden eines vierzig Zentimeter breiten und ebenso tiefen Verstecks, das sorgfältig in die Mauer eingepaßt worden war. Unter dem Schutt, der während der Abrißarbeiten heruntergefallen war, konnte man die Kanten einer Blechdose erkennen.
Séraphin nahm sie heraus. Sie war schwerer als die Ziegel, die er gerade entfernt hatte. Es war eine längliche Dose, die dazu bestimmt war, ein Kilo Würfelzucker aufzunehmen. Ihre bräunliche Farbe wies darauf hin, daß sie zu lange zu diesem Zweck gebraucht worden und dabei dem Rauch des Herdes ausgesetzt gewesen war. Ihren Deckel zierte eine bretonische Landschaft; sie war noch gut zu erkennen. Das Bild zeigte einen Kalvarienberg und eine Bretonin mit traditioneller Haube, die auf den Stufen saß und auf eine mit Felsenriffen übersäte Bucht blickte.
Ohne Mühe nahm Séraphin den Deckel ab. Die Kiste war bis zum Rand mit Goldmünzen im Wert von zwanzig Franc gefüllt. Weder die Langsamkeit seiner Bewegungen noch die Zeit, die er sich mit der Antwort auf die Fragen ließ, die man ihm stellte, noch die freiwillige Isolation, in der er lebte, noch die Hartnäckigkeit, die er beim Abriß seines Hauses an den Tag legte, hätten sein wahres Wesen und seine Verschiedenheit von den übrigen Menschen deutlicher offenbaren können als die Art und Weise, in der Séraphin mit dieser Quelle unverhofften Reichtums verfuhr.
Wie er Rose von sich gewiesen hatte, wie er Marie von sich gewiesen hatte, so wies er auch das Gold von sich. Hätten die Leute aus Peyruis oder Lurs diesen Straßenarbeiter sehen können, wie er die Dose ergriff, sie öffnete und hineinblickte – oh, nicht länger als fünf Sekunden und ohne einen einzigen Freudenschrei –, wie er den warmen Farbton so vieler glänzender Louisdors betrachtete, es wäre ihnen kalt den Rücken hinuntergelaufen: Machte er doch die Zuckerdose wieder zu, ohne die Goldstücke auch nur anzurühren. Er stellte sie auf der Mauer neben sich ab.
Es blieben noch zwei Stunden Tageslicht, und die wollte er nutzen. Er hatte noch zwei Meter des Kaminabzuges abzutragen und sich dabei dem Geruch von kaltem Ruß auszusetzen, den er eingeatmet hatte, als ihm seine Mutter als ganz und gar Fleisch gewordener Geist im Traum erschienen war. Er mußte sich dieses Kamins so schnell wie möglich entledigen, um nicht mehr die schwarze Wand vor sich sehen zu müssen. Mit verdoppeltem Einsatz von Hammer und Hacke gelang es ihm, sein Vorhaben auszuführen. Als es jedoch schließlich soweit war und er an dieser Stelle zum ersten Mal den Erdboden erreichte, herrschte tiefe Nacht, eine Nacht ohne Mondschein.
Erschöpft fuhr sich Séraphin ein letztes Mal mit dem Handrücken über das Gesicht. Es war kein Rauchfang mehr da, doch er selbst war über und über mit Ruß bedeckt: schwarz, schmierig, das Gesicht eines Schornsteinfegers – und seine blonden Haare waren voller Fett. Es war, als habe der Kamin ihm aufgetragen, diesen Grabgeruch weiterzugeben, der einem Alptraum entsprungen war, auf daß er sich nun in der wirklichen Welt verbreite.
Mit
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