Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
wissen, warum?«
    Séraphin stellte die Schubkarre ab.
    »Doch, schon …« sagte er.
    »Warum wohl hat er mich gefragt, ob du wundgescheuerte Hände hättest?«
    Séraphin zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, daß er keine Ahnung hatte.
    »Jedenfalls hat er Angst vor dir«, sagte Patrice. »Das steht fest.«
    Sogar am Weihnachtstag setzte Séraphin sein Werk fort, trotz der Vorhaltungen des Pfarrers, der eigens bei ihm vorbeikam. Das Wetter war schön, und Marie Dormeur und Rose Sépulcre nutzten die Zeit, zu der ihre Eltern vollständig von den Freuden der Tafel in Anspruch genommen waren, um zu entwischen und Séraphin ihre Gaben darzubringen. Marie hatte ein neues Fahrrad bekommen. Sie kamen gleichzeitig in La Burlière an, beide fein herausgeputzt in Wollkleidern und Mänteln mit Fuchspelzkragen.
    Sie waren noch kaum abgestiegen und standen Rad an Rad, denn die eine hatte die andere eingeholt, als sie schon anfingen, sich gegenseitig wüst zu beschimpfen. Immerhin sahen sie davon ab, sich zu prügeln, da sie um ihre Haarpracht fürchteten. Patrice saß auf der Bank und rauchte seine unvermeidliche Zigarette. Als er ihre Schritte und Stimmen hörte, wandte er sich um, ohne ein warnendes Wort auszusprechen.
    Marie verharrte starr vor Schreck und hielt die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Rose dagegen zuckte nicht mit der Wimper, senkte auch nicht den Blick, sondern sagte freundlich guten Tag und ging mit einem Lächeln vorbei. Patrice erhob sich, erwiderte den Gruß und blieb wie versteinert stehen.
    Durch diesen Vorfall war die allzu empfindsame Marie gegenüber ihrer Rivalin ins Hintertreffen geraten, und so war es Rose, die als erste die Sprossen der Leiter erklomm. Marie holte sie rennend ein. Beide riefen wie aus einem Mund:
    »Séraphin! Hallo, Séraphin!«
    Er stand dort oben wie ein Titan. Seine großen Hände schwangen den Vorschlaghammer, und seine Füße stießen die Steine und den Schutt ins Leere. Die Siebenschläfer schossen wie schwarze Blitze in den Mauerspalten hin und her, in denen sie gesteckt hatten und aus denen sie jetzt aufgeregt hervorkamen. Um La Burlière wirbelten Wolken von Staub auf, der seit ewigen Zeiten auf den Mauern und den Böden geschlummert hatte.
    Die beiden Mädchen achteten kaum darauf. Auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren, drängten sie sich auf der Leiter und streckten Séraphin ihre Gaben entgegen. Die eine hielt ein Säckchen mit Oliven bereit, die andere ein mit grünem Seidenband verschnürtes Päckchen mit choux à la crème. Séraphin jedoch stieß laute Beschimpfungen aus, um sie davonzujagen:
    »Verschwindet! Wollt ihr das Zeug auf den Kopf kriegen? Ich kann euch nicht gebrauchen! Macht, daß ihr wegkommt! Los! Macht, daß ihr wegkommt!«
    Er stieß in einem fort weitere Verwünschungen aus, wobei sein Hammer ständig im selben unerbittlichen Rhythmus auf und nieder ging. Mit einem Mal krachte ein Stück Mauer, das er von unten her ausgehöhlt hatte, den entsetzten Mädchen vor die Füße. Sie sahen sich plötzlich in eine riesige Wolke gelöschten Kalks gehüllt, der abscheulich nach Rattengift roch. Mit tastenden Bewegungen wichen sie zurück und hielten sich ihre Taschentücher vor das Gesicht.
    Sie hatten keinen Blick mehr für Patrice, der immer noch unbeweglich dastand, wie vom Blitz getroffen. Sie schöpften nur allmählich wieder etwas Kraft, um sich von neuem zu beschimpfen und auf ihre Räder zu steigen.
    An diesem Tag, an diesem Weihnachtstag bei Einbruch der Dunkelheit, war es endlich so weit, daß Séraphin nur noch das Erdgeschoß von La Burlière vor sich hatte. Die fensterlose Wand, die dem gesamten Anwesen einen so abweisenden Anstrich verliehen hatte, erschien nun nur noch als eine kaum drei Meter hohe Böschung, die mit dem dahinterliegenden Erdreich verschmolz.
    Séraphin drehte sich eine Zigarette und betrachtete lange sein Werk. Eine große Steineiche, die im Schatten dieser nun abgetragenen Mauern aufgewachsen war, atmete tief auf unter dem freien Himmel, mit all ihren fröhlich im sanften Wind winkenden Blättern. Und Séraphin folgte ihrem Beispiel und tat ebenfalls einen tiefen, befreienden Atemzug. Es war ihm, als wolle sein Alptraum nun langsam schwinden. Er stieg die Leiter hinab. Er hob die beiden so hübsch verschnürten Päckchen auf, die die Mädchen zurückgelassen hatten. Ohne ein Lächeln sah er sie sich an und schüttelte den Kopf. Mit schwerem Schritt ging er auf sein Fahrrad zu, das an der

Weitere Kostenlose Bücher