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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Böschung lehnte.
    In diesem Augenblick sah er Patrice unbeweglich wie ein Wegzeichen vor sich stehen. Er rauchte nicht, was durchaus ungewöhnlich für ihn war. Die tiefer werdende Dunkelheit hatte die Narben, die Vertiefungen und Verwerfungen seiner Züge ausgeglichen und ihm ein menschliches Gesicht verliehen.
    »Sind Sie immer noch da?« fragte Séraphin verwundert.
    »Pst!« zischte Patrice. »Ich träume noch … Weck mich nicht auf. Sie hat mir ins Gesicht gesehen! Sie hat den Blick nicht gesenkt! Sie hat mich … Ach! Wie soll ich es dir beschreiben? Sie hat mich … angelächelt …«
    »Wer?«
    »Die Perserin … Na ja, die, die wie eine Perserin aussieht.«

»Eine Perserin?« fragte Séraphin verblüfft. »Was ist das eigentlich, eine Perserin?«
    »Ach«, sagte Patrice, »eigentlich weiß ich es selbst nicht. Aber … Das muß es sein …« Mit einer Kopfbewegung wies er auf die flüchtige Spur, die nur er weit hinten auf der Straße ausmachen konnte. Die letzten Worte hatte er schwer atmend hervorgestoßen. Séraphin vernahm ein merkwürdiges Geräusch. »Sagen Sie … Weinen Sie etwa?« fragte er.
    »Ja. Das kann ich wenigstens, weinen.«
    »Hier!« sagte Séraphin. »Sie hat mir Oliven mitgebracht. Nehmen Sie sie!«
    Patrice brachte ein schniefendes Lachen zustande, das ironisch klingen sollte. »Ich werde sie unter einer Kristallglocke aufbewahren!«
    »Und das da auch noch! Nehmen Sie auch die choux à la
    crème von der anderen mit!«
    »Ja, aber … Und du?«
    »Ich? Was soll ich schon mit Windbeuteln anfangen?« Er schloß mit sanfter Stimme: »Das alles ißt man am besten, wenn man glücklich und zufrieden ist …« Er stieg auf sein Rad und verschwand.
    Inmitten der Siebenschläfer, die auf der Suche nach einem Unterschlupf herumhuschten, stand Patrice unbeweglich da und ließ den kostbaren Augenblick auf sich wirken, den er gerade erlebt hatte. Doch er hätte nicht so lange im Schatten von La Burlière stehenbleiben sollen, denn das Leben, das nach und nach aus den Trümmerresten wich, hier durch einen herunterfallenden Stein, dort durch eine sich heimlich ablösende Gipsplatte, ließ durch die Stimmen der großen, im Wind rauschenden Steineichen seine Klage hören. Die Ruine mit ihren übriggebliebenen Mauerresten gab Patrice flüsternd zu verstehen, daß alles sterben müsse. Er hörte ihr so gespannt zu, als handle es sich um seine eigene Geschichte.
    In dieser Nacht, in der Weihnachtsnacht, träumte Séraphin von seiner Mutter. Von einer weißen Balustrade im Hintergrund, die von einem Gestänge aus schwarzem Schmiedeeisen überwölbt wurde, das er noch nie gesehen hatte, kam sie auf ihn zu. Sie kam barfuß über das Gras. Sie war so jung wie er jetzt. Sie war nackt. Nicht ganz nackt, um genau zu sein. Sie trug ein paar aufreizende Stoffetzen auf dem Leib, wie Séraphin sie in den schlüpfrigen Zeitschriften gesehen hatte, die man während des Krieges an der Front herumgehen ließ, um die Stimmung zu heben.
    Sie kam auf ihn zu, um sich auf ihn zu legen. Und das Schreckliche dabei war, daß sie ein Gesicht zeigte. Ein Gesicht, das Séraphin niemals zuvor gesehen hatte. Er fragte sich – in seinem Traum –, ob es wirklich demjenigen glich, das sie im Leben gehabt haben mochte.
    Ihr Mund öffnete sich zu einem Bekenntnis. Sprach sie von ihrem Leben? Sprach sie von ihrem Tod? Séraphin wurde von Grauen gepackt; eine unerträgliche Angst lähmte ihn bei dem Gedanken, daß er im nächsten Augenblick, sobald sie nahe genug wäre, nicht wiedergutzumachende Worte zu hören bekommen würde, die er nie mehr aus seinem Gedächtnis würde tilgen können.
    Sie kam näher und näher. Sie flüsterte immer noch. Sie hatte die gleichen langsamen Bewegungen wie er, Séraphin, bei seinen täglichen Verrichtungen. Sie streckte sich auf ihm aus, aber sie hatte kein Gewicht, als sei sie mit Luft angefüllt. Mit einer anmutigen Bewegung entledigte sie sich ihres Mieders. Er hörte deutlich, wie die Druckknöpfe aufsprangen. Und mit einem Mal quollen ihre Brüste heraus, nur Brüste, ohne dazugehörigen Körper. Auf jeder Brustwarze schimmerte jener zu glänzendem Stein erstarrte Milchtropfen, den der Tod in der Erzählung des alten Burle dort hatte gerinnen lassen. Und von ihrer Umgebung – sie hatte immer noch kein Gewicht – ging ein Geruch von sehr altem, kaltem Ruß aus. Aber im selben Augenblick – und daher hatte er ihr Gewicht auch nicht gespürt – schwebte sie durch den Raum, ohne einen Blick auf

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