Das erste der sieben Siegel
und die ständige Bedrohung durch Eisbären in Kauf zu nehmen. (Noch heute waren die Besucher von Svalbard in der Regel bewaffnet – und nicht mit .22ern. Sie bevorzugten Gewehre und Handfeuerwaffen vom Kaliber .45, damit sie sicher sein konnten, einen angreifenden Dreihundert-Kilo-Bären niederzustrecken.)
Svalbard war natürlich nicht gerade überreich an Bodenschätzen. Die Insel hatte eigentlich nur Kohle zu bieten. Ein amerikanischer Geschäftsmann namens John Longyear war der erste gewesen, der auf den Inseln Kohle abbaute. Er gründete 1906 die Arctic Coal Company, die auf Spitzbergen ein Bergwerk einrichtete, ein Ereignis, das einen regelrechten ›Kohlerausch‹ auslöste und abenteuerlustige Briten, Dänen und Russen anlockte, die sich überall auf den Inseln auf die Suche nach Kohle machten.
Der zunächst einträgliche Kohleabbau wurde im Laufe der Zeit zunehmend teurer. Aber das war kaum der springende Punkt. Der eigentliche Schatz war der Archipel selbst, der an strategisch wichtiger Stelle den Eingang zur Barentssee hütete. Die Russen und Briten, Norweger und Dänen meldeten ihre Ansprüche auf weitaus mehr an als auf die Kohle in der Erde.
Schließlich setzten die Norweger sich durch, und zwar indem sie weiter Bergwerke betrieben wie das in Kopervik – ein nahezu unzugänglicher Außenposten, der am Ende die teuerste Kohle der Welt produzierte. Zumindest so lange, bis die Souveränitätsfrage schließlich zugunsten von Norwegen entschieden war, woraufhin das Bergwerk prompt stillgelegt wurde.
Jetzt, fast sechzig Jahre später, waren Annie und Doctor K hinter einem ganz anderen vergrabenen Schatz her: ein Virus, das so virulent und ansteckend war, dass es möglicherweise als Maßstab für alle anderen Viren dienen könnte. Es lag, so hofften sie wenigstens, knapp einen Meter tief im Permafrost, tief in den Lungen von fünf norwegischen Bergarbeitern, die achtzig Jahre zuvor an ihrem eigenen Sputum erstickt waren. Den akribischen Aufzeichnungen des lutherischen Geistlichen zufolge, der damals in Kopervik gelebt hatte, lagen die Leichname der Minenarbeiter in der westlichsten Ecke des Friedhofes, unmittelbar hinter der Kirche.
Natürlich würde das NOAA-Team Eiskernproben vom Permafrost nehmen müssen, bevor die Exhumierung stattfand. Falls die Eiskerne ergaben, dass es Schmelz-und-Tau-Zyklen gegeben hatte, würde entschieden werden müssen, ob die Arbeit überhaupt fortgesetzt werden sollte. Da das Influenzavirus sich rasch nach dem Tod seines Wirts zersetzt, wäre es sinnlos, die Toten zu exhumieren, wenn die Leichen irgendwann seit 1918 einmal aufgetaut waren.
Was, wenn man es recht bedachte, nicht unwahrscheinlich war.
Dieses verdammte Eis, dachte Annie, die auf den faltigen weißen Ozean blickte, in der Hoffnung, schwarzes Wasser zu entdecken. Doch es war nichts zu sehen, nur der kristallklare blaue Himmel und aufgetürmte Wellen, weiß wie Laken und genauso blendend.
Schließlich war dieses Projekt ihr Kind. Kein Wunder, dass sie ungeduldig war.
Sie war es, die, ermutigt durch Doctor K, fast ihre gesamte Freizeit dafür geopfert hatte, in Bergsiedlungen in so entlegenen Gegenden wie Chile, Sibirien und Tibet nach, wie Doctor K es nannte, ›lebensfähigen Opfern‹ zu suchen.
Schließlich hatte sie in einer alten Ausgabe der New York Times etwas über Spitzbergen gelesen. In dem Artikel ging es um die russischen und norwegischen Ansprüche auf den Archipel Svalbard. Fast beiläufig wurden die Kohlebergwerke der Region erwähnt, und dass die Spanische Grippe 1918 schlimm unter der dortigen Arbeiterschaft gewütet hatte. Das allein überraschte sie nicht, sondern vielmehr der Umstand, dass die Toten an Ort und Stelle begraben worden waren und nicht auf dem Festland. Neugierig geworden, forschte sie weiter nach und wusste bald mehr über die Bestattungspraktiken im eiskalten Norden, als sie je erwartet hatte.
Die Einheimischen betteten ihre Toten meist über der Erde zur letzten Ruhe und bereiteten Ihnen ein Hügelgrab aus Felsen und Steinen. Ein Grab auszuheben war unmöglich. Der Boden war bis zu einer Tiefe von ein, zwei Metern hart gefroren, und so war es besser, der Natur ihren Lauf zu lassen. Am Ende nahmen sich dann die Bären der Toten an.
Doch die Bergwerksfirmen hatten eine Alternative, und zwar Dynamit. Sie bohrten Löcher in die gefrorene Erde, steckten Dynamitstangen hinein und sprengten etwa ein Meter tiefe Gräber aus dem Boden. Was durchaus reichte: Weder Wärme noch
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