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Das erste der sieben Siegel

Titel: Das erste der sieben Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Case John F.
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    Daly war verblüfft über die russische Kleptokratie, in der alles, was nicht niet- und nagelfest war, geklaut oder gekauft wurde. In Moskau hatten zwei Leute ihm seine Sonnenbrille abkaufen wollen, und ein Jugendlicher auf einem Moped hatte nach seiner Armbanduhr gegrapscht. Autofahrer nahmen ihre Scheibenwischer mit ins Restaurant und legten sie auf den Tisch wie zusätzliches Besteck. Nach zwei Tagen in der russischen Hauptstadt war Daly klar geworden, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis jemand versuchen würde, ihn wegen seines Laptops umzubringen. Also tauschte er die teure Tragetasche aus Leder gegen einen schäbig aussehenden Matchbeutel ein. Der Laptop – ein ThinkPad für viertausend Dollar – passte bequem in die Segeltuchtasche, die in einem früheren Leben zweifellos als Behältnis für Buntstifte und Erdnussbuttersandwiches (oder was immer russische Kinder mittags aßen – Rote Bete vielleicht) gedient hatte.
    Nach einer Weile gab er es auf, auf den Lift zu warten, und ging, den Schlüssel in der Hand, die Treppe hoch, die so dunkel war, dass er nervös wurde. Irgendwo zwischen dem zweiten und dritten Stock hörte er jemanden rufen. Der Lärm klang gedämpft und panisch, fern und nah zugleich. Nach einem Augenblick merkte er, dass die Rufe durch die Wand kamen, woraufhin sich ihm die Nackenhaare sträubten. Dann begriff er: Es war nichts Übernatürliches; jemand saß im Fahrstuhl fest. Mit einem Seufzer ging er denselben Weg zurück und sagte dem Mann an der Rezeption Bescheid, der achselzuckend die Handflächen zur Decke drehte. »Jeden Abend gleiches Problem«, sagte er mit leiser, rauer Stimme. »Ich erzähle Gästen von Stromsparpolitik. Aber …« Er zuckte erneut die Achseln. »Eine Stunde, vielleicht zwei.«
    Die armen Schweine, dachte Daly und beschloss, sich von Aufzügen fern zu halten. Sein Zimmer war im vierten Stock, und er brauchte eine Weile, bis er dahinterkam, wie man die Tür in dem düsteren Korridor öffnete.
    Sobald er drinnen war, warf er seinen Koffer aufs Bett und betrachtete mit zunehmender Beklommenheit die fleckige Tapete, die gesprungenen Wandleuchter und schmuddeligen Deckenplatten. Ein Radiator klapperte an der Wand, fühlte sich aber kalt an. Das einzige Fenster ging auf einen Luftschacht, was zur Folge hatte, dass das Zimmer dunkler und vermutlich wärmer war als viele andere in dem Hotel. Dennoch hatte sich der Wind durch den Spalt zwischen Fensterbank und Fensterrahmen gezwängt, und auf dem abgewetzten Teppich lag eine kleine Pyramide aus körnigem Schnee. Daly betrachtete sie einen Augenblick, in der Hoffnung auf ein verräterisches Zeichen von Feuchtigkeit, sah dann aber ein, dass der Schnee nicht schmolz.
    Er verschränkte die Arme, die Fäuste unter die Achseln geklemmt, und setzte sich auf die Bettkante. Er atmete kräftig aus, sah zu, wie sein Atem durch die Luft wirbelte, und zitterte.
    Dennoch, dachte er, so kalt und ungemütlich ihm auch zumute war, es gab eine tröstliche Tatsache: Bei diesem Sturm würde zumindest die Rex Mundi nicht auslaufen.

6
    77° 30’ N, 20° 12’ O
    Annie stand an der Reling und blickte nervös nach vorn auf das Packeis. Festlandeis, korrigierte sie in Gedanken. Was bedeutete, dass es mit dem Land verbunden war.
    Bring das nicht durcheinander, sagte sie sich.
    Sie wollte keine Fehler machen, um den Schneemännern keinen Anlass zu geben, sie zu veralbern. Oder sie zumindest herablassend zu behandeln, mit amüsierten Blicken und hilfreichen Korrekturen. Sie konnte nicht gut mit so was umgehen. Sie kam sich dann dumm vor, bekam einen roten Kopf und wurde trotzig. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte immer zu hören bekommen, ›das liegt in der Familie‹. Ein dünnes Fell.
    Und bis sie alt genug war, um zu verstehen, dass das nur eine Metapher war, hatte sie es für eine Krankheit gehalten, eine Krankheit, die sie geerbt hatte, zusammen mit den Wangenknochen ihrer Mutter. Ein dünnes Fell. Es klang wie etwas, das jederzeit Risse bekommen konnte. Wie Eis auf einem Teich.
    Festlandeis. Überall.
    Sie waren noch rechtzeitig vor dem Sturm weggekommen, und es war ein strahlender Tag, mit blauem Himmel und Temperaturen knapp über Null. Die Rex Mundi mahlte sich kriechend langsam durch das Eis, das Deck und die Aufbauten mit Frost überzogen. Das Schiff fuhr in Richtung Storfjord, eine Passage aus Wasser und Eis, das

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