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Das erste der sieben Siegel

Titel: Das erste der sieben Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Case John F.
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war keine. Nur Eis und Schnee und …
    Ein wirbelndes Muster, wie Prismen, die sich in ihrem Gesichtsfeld immer neu formten. Sie hatte darüber gelesen. Es war eine verbreitete Halluzination, und Annie wusste aufgrund ihrer vorbereitenden Lektüre in der Woche zuvor, dass das Phänomen erstmals von einem Polarforscher berichtet wurde, der im neunzehnten Jahrhundert mit seiner Crew Baffin Island zur Hälfte durchwandert hatte – nachdem ihr Schiff eingefroren und ›wie eine Walnuss‹ vom Eis zerquetscht worden war.
    Zumindest das würde nicht passieren; sie konnten unmöglich festfrieren. Die Rex war für die Arktis gebaut, und mit ihrem stahlverstärkten Rumpf und den kraftvollen Maschinen konnte sie vier bis sechs Meter dickes Eis durchpflügen.
    Sie wünschte nur, das Schiff würde schneller vorankommen.
    Annie kniff kurz die Augen zusammen, wie ihr geraten worden war, wenn sie Halluzinationen bekam. Bei dem Gedanken an den Polarforscher und seine Crew fröstelte sie. Zuerst hatten sie ihre Hunde gegessen, dann Stücke Segeltuch, dann Teile ihrer Kleidung. Ganz zuletzt aßen sie ihre Stiefel, und da hatten sie kaum noch Zähne im Mund. Das Tagebuch des Expeditionsleiters wurde von einer späteren Expedition gefunden. Es war in Ölpapier eingeschlagen und in einer Tabakdose verstaut worden. In dem Tagebuch schrieb der Leiter, dass Schuhleder sich saftig auf der Zunge anfühlte und dass er es ganz still im Mund behielt, bis es sich auflöste wie eine Hostie.
    Und dann war er vermutlich gestorben.
    Annie spürte eine Veränderung in der Luft, und sie blinzelte in die Ferne. Am Horizont waren Regenwolken, so sah es zumindest aus. Sie schaute durchs Fernglas, um es genauer sehen zu können, und ihre Hoffnung sank. Gewitterwolken zogen am blauen Himmel auf. Auch das noch. Wieder ein Sturm.
    Trotz der Kleidungsschichten, die sie am Leibe trug – angefangen von Thermounterwäsche bis hin zu dem bauschigen, roten Michelin-Männchen-Parka, der ihr von der Rex zur Verfügung gestellt worden war –, durchlief sie ein Schauder. Sie fror, aber sie wollte nicht zurück in ihre Kajüte gehen, nicht einmal auf die warme Kommandobrücke. Sie hatte das abergläubische Gefühl, dass das offene Gewässer niemals kommen würde, wenn sie nicht weiter in die Ferne blickte. Und es musste kommen. Bald.
    Ihr Blick wanderte hinab zum unteren Deck, wo Doctor K mit verschränkten Armen und verkniffenem Mund stand und den Horizont beobachtete. Er war vermutlich nervös – er musste nervös sein. In den nächsten Tagen stand viel für ihn auf dem Spiel. Aber er würde sich natürlich nichts anmerken lassen. Im Gegensatz zu ihr behielt er seine Gefühle für sich.
    Bis auf seine beißende Intoleranz, wenn andere einen Fehler machten. An der Georgetown University und bei den NIH galt Kicklighter unbestritten als Koryphäe. Als Virologe war er einer der führenden Experten der Welt für Ribonukleinsäure-Viren. Er war als Kandidat für den Nobelpreis im Gespräch – das war nichts Neues –, aber er selbst wies den Gedanken von sich. »Ich bin nicht an Trophäen interessiert«, log er.
    Als emeritierter Professor der Georgetown University war seine Unbeliebtheit legendär. Wenn jemand erfuhr, dass Annie seit ihrer Promotion seine Assistentin war, bekam sie oft zu hören: »Für den Schinder arbeiten Sie? Wie halten Sie das bloß aus?«
    Er ist schüchtern, sagte sie dann. Er lebt in seiner eigenen Ideenwelt. Und … er kann einfach nicht gut mit Menschen umgehen.
    So konnte man es auch ausdrücken. Aber es stimmte schon, Doctor K war nie gemein. Er wurde nicht wütend. Und er war nicht nachtragend. Das Problem war nur, wenn man mit ihm zusammenarbeitete und seinen Gedankensprüngen nicht folgen konnte (was, ehrlich gesagt, viele Studenten nicht konnten), dann musste er innehalten und etwas erklären. Und dadurch ging ihm dann manchmal etwas verloren, und gerade das war manchmal wichtig.
    Und wenn eine Frage zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt gestellt wurde, dann bekam er diesen Ausdruck im Gesicht, den seine Studenten so gerne nachahmten. Seine Schultern fielen herab, sein Kopf neigte sich zur Seite, und ganz langsam und geduldig fing er an zu erklären und sprach mit einer Stimme, die zuweilen so distanziert klang wie von einer Tonbandaufnahme – eine Aufnahme, die die Frage sezierte, als wäre sie ein Frosch, und die falschen Voraussetzungen freilegte, die ihr zugrunde lagen.
    So etwas war für den jeweiligen Fragesteller

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