Das erste der sieben Siegel
Bären würden je an die Toten herankommen.
So hoffte Annie zumindest. Und mit Doctor Ks Erlaubnis hatte sie an die Bergwerksfirma geschrieben und sich nach den Gräbern erkundigt. Die Firma war im Zweiten Weltkrieg geschlossen worden, aber die Anwaltskanzlei, die deren Interessen vertrat, verwies sie an die Kirche, deren Pfarrer für die Bergleute in Kopervik und Longyearbyen zuständig war. Die Kirchenbücher enthielten die Namen der toten Arbeiter und ihrer Familienangehörigen, bei deren Nachfahren die Zustimmung für die Exhumierung (und anschließende erneute Beisetzung) ihrer Verwandten eingeholt wurde.
Doctor K hatte bei dem ganzen Unternehmen eine zwar passive, aber durchaus unterstützende Rolle gespielt. Und als das Fundament schließlich gelegt war, beantragte er die Finanzierung des Forschungsprojekts in ihrer beider Namen – mit abschlägigem Bescheid.
Alle hielten das Projekt für vielversprechend. Interessant. Lohnenswert. Und für angebracht: In wissenschaftlichen Kreisen ging man davon aus, dass eine größere Mutation des Influenzavirus kurz bevorstand. Dergleichen geschah etwa alle dreißig Jahre, und es war ›überfällig‹. Man war sich ebenfalls darin einig, dass die erwartete Veränderung, ›falls die Vergangenheit das Vorspiel war‹, ein A-Virus hervorbringen würde – wie das der Spanischen Grippe. Es herrschte ebenfalls Übereinstimmung darin, dass Doctor Ks Theorie vielversprechend war und dass eine Probe von dem Virustyp des Jahres 1918 – falls sich eine finden ließe – nützliche Daten über den Zusammenhang von Virulenz und Antigenstruktur liefern könnte.
Falls Doctor K Recht hatte, ließen sich anhand des relativ auffälligen hakenähnlichen Fortsatzes an der Proteinhülle des Antigens die virulenteren Influenzavarianten erkennen. Unter Virologen war dieser Fortsatz (halb scherzhaft) als ›Kicklighter-Horn‹ bekannt.
Noch heute kam der A-Typ in dem einen oder anderen Teil der Welt vor – und die Menschen, die mit dem Virus infiziert wurden, starben nicht massenweise. Doctor Ks Untersuchungen zu diesen Varianten bestätigten im Grunde seine Theorie: Ihnen fehlten der eher auffällige Haken und, wie er vorhergesagt hatte, die damit einhergehende Virulenz. Es war somit durchaus davon auszugehen, dass ein Blick auf die Virusvariante von 1918 – abgesehen davon, was für Erkenntnisse sich außerdem noch gewinnen ließen – seine Theorie bestätigen oder widerlegen würde.
Und so egoistisch es sich vielleicht auch anhörte, Annie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie, wenn die Expedition von Erfolg gekrönt war, auf dem besten Weg zu einer Professur an der Georgetown University war.
Sie wäre sogar schon weiter gewesen, wenn der Finanzierungsantrag nicht einem denkbar schlechten Timing zum Opfer gefallen wäre. Nur einen Monat bevor der Antrag bei der National Science Foundation eingereicht wurde, hatte es im Arbor-Viren-Forschungslabor in Cambridge, Massachusetts, einen Unfall gegeben, der in der Öffentlichkeit für viel Wirbel gesorgt hatte. Ein Reagenzglas war in der Zentrifuge zerbrochen, und zwei Ärztinnen und ein Laborassistent hatten sich mit Sabia infiziert, einer häufig tödlich verlaufenden, mit Fieber und Blutungen einhergehenden Krankheit, die zuvor nur in Brasilien vorgekommen war. Zwar war der Vorfall sofort heruntergespielt worden, doch die Sensationspresse hatte Wind davon bekommen, mit dem Ergebnis, dass im Kongress eine Sondersitzung stattfand, die sich auf die NSF ausgesprochen abschreckend auswirkte. Aus Angst vor weiterer Kritik lehnte die Stiftung die Finanzierung einer Expedition ab, die im Grunde darauf abzielte, eines der gefährlichsten Viren in der Menschheitsgeschichte dem Vergessen zu entreißen.
Und nach einem Jahr, als Annie eigentlich schon gar nicht mehr an den Antrag dachte, wurde die Finanzierung plötzlich genehmigt – nicht von der NSF, sondern von einer kleinen Stiftung, die ihren Sitz in einem Haus hinter dem Obersten Bundesgericht hatte.
Annie hatte vorher nie von ihr gehört, ja, sie hatte nicht einmal gewusst, dass Doctor K den Antrag auch bei anderen potenziellen Geldgebern eingereicht hatte. Aber das war typisch für Doctor K. Er behielt Dinge für sich – vermutlich, um Annie vor weiteren Enttäuschungen zu bewahren. Was ihr nur Recht war.
Annie ließ das Fernglas sinken, noch während sie weiter nach vorn schaute und versuchte, mit bloßer Willenskraft eine Wasserrinne herbeizuzaubern. Aber da
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