Das erste Gesetz der Magie - 1
stellte überrascht fest, daß er auf dem Boden hockte, sein Gesicht auf gleicher Höhe mit ihrem. »Ich werde dir nichts tun.«
Sie öffnete das andere Auge, genauso vorsichtig. »Wirklich nicht?« Sie glaubte ihm nicht. Mit Schrecken stellte sie fest, daß die große, schwere Tür verschlossen, ihr einziger Fluchtweg versperrt war.
»Nein«, lächelte er. »Wer hat das Kästchen heruntergenommen?«
»Wir haben gespielt. Das ist alles. Einfach nur gespielt. Ich habe es für die Prinzessin zurückgestellt. Sie ist so gut zu mir, so gut, ich wollte ihr helfen, sie ist ein wunderbarer Mensch, ich liebe sie, sie ist so gut zu mir…«
Er legte ihr seinen langen Finger auf die Lippen, um sie sachte zum Schweigen zu bringen. »Ich habe verstanden, mein Kind. Du bist also die Gespielin der Prinzessin?«
Sie nickte ernst. »Rachel.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Ein hübscher Name. Freut mich, dich kennenzulernen, Rachel. Tut mir leid, daß ich dir einen Schrecken eingejagt habe. Ich wollte nur nach dem Kästchen der Königin sehen.«
Noch nie hatte ihr jemand gesagt, ihr Name sei hübsch. Andererseits hatte er die große Tür zugemacht. »Du wirst mich nicht totschlagen? Oder mich in irgend etwas Schreckliches verwandeln?«
»Lieber Himmel, nein«, er lachte. Er drehte den Kopf und linste sie aus einem Auge an. »Wieso hast du diese roten Flecken auf deinen Wangen?«
Sie antwortete nicht, hatte zuviel Angst. Langsam, behutsam, streckte er die Hand aus, berührte mit den Fingern erst die eine, dann die andere Wange. Sie riß die Augen auf. Das Brennen war verschwunden.
»Besser?«
Sie nickte. Er hatte so gute Augen, als er sie jetzt von ganz nah ansah. Deswegen glaubte sie, es ihm erzählen zu können. Sie tat es. »Die Prinzessin schlägt mich immer«, gestand sie verschämt.
»So? Sie ist also doch nicht nett zu dir?«
Sie schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Dann tat der Zauberer etwas, das sie verblüffte. Er legte ihr den Arm um die Schulter und drückte sie sacht. Einen Augenblick lang stand sie wie angewurzelt da, dann schlang sie ihm die Arme um den Hals und erwiderte die Umarmung. Seine Barthaare kribbelten ihr auf Wange und Hals, es gefiel ihr trotzdem.
Er sah sie traurig an. »Tut mir leid, mein Kind. Die Prinzessin und die Königin können recht grausam sein.«
Seine Stimme klang so freundlich, wie die von Brophy. Unter seiner Hakennase zeigte sich ein breites Grinsen.
»Weißt du was? Ich habe hier etwas, das dir vielleicht hilft.« Er griff mit seiner dürren Hand unter sein Gewand und sah in die Luft, während er herumsuchte. Dann hatte er das Gesuchte gefunden. Mit großen Augen verfolgte sie, wie er eine Puppe hervorholte, eine Puppe mit blonden, kurzen Haaren wie sie. Er tätschelte den Bauch der Puppe. »Hier, eine Kummerpuppe.«
»Eine Kummerpuppe?« hauchte sie.
»Ja.« Er nickte. In seinen Wangen bildeten sich tiefe Lachfalten. »Wenn du Kummer hast, erzählst du ihn der Puppe, und sie nimmt ihn dir ab. Sie verfügt über Magie. Hier. Versuch es mal.«
Rachel verschlug es fast den Atem, als sie beide Hände ausstreckte und die Finger vorsichtig um die Puppe schloß. Sie drückte sie vorsichtig an sich. Dann hielt sie sie langsam, zaghaft von sich und betrachtete ihr Gesicht. Ihre Augen wurden ganz feucht.
»Prinzessin Violet meint, ich sei häßlich«, vertraute sie der Puppe an.
Das Gesicht der Puppe lächelte. Rachels Unterkiefer klappte herunter.
»Ich liebe dich, Rachel«, sagte sie mit ihrem winzigen Stimmchen.
Rachel stockte überrascht der Atem. Sie strahlte vor Freude und drückte die Puppe so fest sie konnte. Lachend drückte sie die Puppe an sich und schaukelte hin und her.
Dann fiel es ihr wieder ein. Sie schob die Puppe dem Zauberer hin und wandte das Gesicht ab.
»Ich darf keine Puppe haben. Das hat die Prinzessin gesagt. Sie schmeißt sie ins Feuer, hat sie gesagt. Wenn ich eine Puppe hätte, würde sie sie ins Feuer schmeißen.« Sie konnte kaum sprechen, so groß war der Klumpen in ihrer Kehle.
»Nun, laß mich nachdenken«, sagte der Zauberer und rieb sich das Kinn. »Wo schläfst du?«
»Meistens schlafe ich im Schlafzimmer der Prinzessin. Nachts schließt sie mich im Kasten ein. Ich finde das gemein. Manchmal, wenn sie sagt, ich sei böse gewesen, zwingt sie mich, die Nacht über das Schloß zu verlassen. Dann muß ich draußen schlafen. Sie glaubt, das sei noch gemeiner, aber mir gefällt es eigentlich, denn ich habe einen geheimen Platz in einer
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