Das erste Gesetz der Magie - 1
ihn wiederzusehen. Er konnte es kaum abwarten, mit ihm zu sprechen. Er ignorierte das Gefühl, sie würden beobachtet.
»Am meisten vermisse ich meinen Bruder«, sagte sie zu ihrer Puppe. Sie sah zur Seite. »Angeblich ist er gestorben«, vertraute sie ihr leise an. Fast den ganzen Tag lang hatte Rachel der Puppe ihre Sorgen gebeichtet. Was immer ihr gerade einfiel. Wenn sie anfing zu weinen, sagte die Puppe, daß sie sie liebhätte, und schon fühlte sie sich besser. Manchmal mußte sie lachen.
Rachel legte ein Stöckchen nach. Ein gutes Gefühl, sich wärmen zu können und Licht zu haben. Trotzdem hielt sie das Feuer klein, wie Giller ihr geraten hatte. Bald wurde es wieder dunkel. Manchmal machten ihr die Geräusche im Wald angst, und sie fing an zu weinen. Aber immer noch besser, als im Kasten eingesperrt zu sein.
»Das war damals, ich hab’ dir schon davon erzählt. Bei den anderen Kindern, bevor die Königin mich ausgesucht hat. Da hat es mir viel besser gefallen als bei der Prinzessin. Alle waren nett zu mir.« Sie sah die Puppe an, um festzustellen, ob sie zuhörte. »Manchmal kam ein Mann vorbei, Brophy Die Leute haben schlimme Dinge über ihn erzählt, aber zu uns Kindern war er nett. Wie Giller. Er hat mir auch eine Puppe geschenkt, aber ich durfte sie nicht mitnehmen, als ich in das Schloß der Königin gezogen bin. Aber das war mir egal. Ich war so traurig, weil mein Bruder gestorben war. Ich hörte, wie einige sich erzählten, er sei ermordet worden. Ich weiß, das heißt, daß ihn jemand umgebracht hat. Warum bringen Menschen Kinder um?«
Die Puppe lächelte bloß. Rachel lächelte zurück.
Sie mußte an den neuen kleinen Jungen denken, den die Königin hatte einsperren lassen. Er redete komisch und sah komisch aus, trotzdem erinnerte er sie an ihren Bruder, weil er ständig Angst hatte. Ihr Bruder bekam auch ständig Angst. Rachel merkte sofort, wenn ihr Bruder Angst bekam. Er wurde dann immer ganz zappelig. Der neue Junge tat ihr leid. Wenn sie nur etwas zu sagen hätte, dann könnte sie ihm helfen.
Rachel hielt die Hände einen Augenblick übers Feuer, um sie zu wärmen, dann steckte sie eine in die Tasche. Sie hatte Hunger. Sie hatte nur wenige Beeren gefunden. Sie bot der Puppe eine große davon an. Die Puppe schien keinen Hunger zu haben, also aß sie sie selbst, dann noch eine Handvoll, bis sie alle aufgegessen hatte. Sie war immer noch hungrig, wollte aber nicht noch einmal auf die Suche gehen. In der Nähe wuchsen keine Beeren, außerdem wurde es dunkel. Sie wollte nicht draußen im Wald sein, wenn es dunkel wurde. Sie wollte in ihrer Launenfichte sitzen, mit ihrer Puppe. Neben dem warmen Feuer. Im Licht.
»Vielleicht wird die Königin etwas netter, wenn sie ihr Bündnis bekommt, was immer das ist. Sie spricht von nichts anderem, nur wie sehr sie sich ihr Bündnis wünscht. Vielleicht ist sie dann glücklicher und läßt den Leuten nicht ständig den Kopf abschlagen. Die Prinzessin will immer, daß ich mitgehe, aber ich mag nicht zusehen, also mache ich die Augen zu. Jetzt läßt sogar Prinzessin Violet schon den Leuten die Köpfe abschlagen. Sie wird jeden Tag ekelhafter. Ich habe Angst, daß sie mir den Kopf auch abschlagen läßt. Wenn ich nur weglaufen könnte.« Sie sah die Puppe an.
»Ich wünschte, ich könnte weglaufen und brauchte nie wiederzukommen. Und dich würde ich mitnehmen.«
Die Puppe lächelte. »Ich liebe dich, Rachel.«
Sie hob die Puppe auf und drückte sie, dann gab sie ihr einen Kuß auf die Stirn.
»Aber wenn wir weglaufen, schickt Prinzessin Violet die Wachen hinter mir her, und dich werfen sie dann ins Feuer. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich, Rachel.«
Rachel drückte ihre Puppe ganz fest. Dann kroch sie ins Stroh und legte die Puppe neben sich. Morgen mußte sie zurück, und die Prinzessin würde wieder gemein zu ihr sein. Sie mußte die Puppe hierlassen, sonst würde man sie ins Feuer werfen.
»Du bist die allerbeste Freundin, die ich je hatte. Und Giller ist mein Freund.«
»Ich liebe dich, Rachel.«
Besorgt dachte sie darüber nach, was mit ihrer Puppe geschehen würde, ganz allein hier in der Launenfichte. Sie würde einsam sein. Was, wenn die Prinzessin sie nie wieder rausschmiß, wenn sie dahinterkam, daß sie sich gerne rausschmeißen ließ und sie deshalb einfach aus Gemeinheit im Schloß behielt?
»Hast du eine Ahnung, was ich tun soll?« fragte sie die Puppe und betrachtete das Flackern des
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