Das erste Schwert
Ellah hatte scharf geschnittene, fuchsartige Gesichtszüge und Augen, so grün wie unreife Haselnüsse, Oksanas
Gesicht dagegen war weich und sanft wie ihre ganze Gestalt, ihre Augen schimmerten honigfarben und beim Anblick ihrer Haare
musste Skip jedesmal an reifen Weizen denken. Und wie immer wunderte er sich auch heute, dass diese beiden Mädchen Freundinnen
sein konnten. Ellah kam mit den Mädchen in ihrem Dorf nicht gut aus. Seit ihrer frühen Kindheit verbrachte sie ihre Zeit immer
nur mit Skip und Erle. Daher hielten viele sie für die Schwester der beiden und vergaßen, dass ihre Familien überhaupt nicht
verwandt waren. Für Skip allerdings
war
sie eine nahe Verwandte, gelegentlich naseweis und eine Plage, doch es war undenkbar, sie nicht um sich zu haben. Es überraschte
ihn allerdings stets, wie sehr Oksana Ellah bewunderte. Es musste wohl damit zu tun haben, dass Ellah immerzu redete und Oksana
stets zuhörte.
So wie jetzt, als Skip etwas einwenden wollte und Ellah ihm schon wieder zuvorkam, wobei sie ihm einen warnenden Blick zuwarf.
»Vielen Dank für Euer freundliches Angebot, Meisterin Marfa«, sagte sie.
»Dann ist ja alles geklärt!«, brummte Meisterin Marfa zufrieden und führte sie an einen Tisch. »Zuerst das Abendessen. Dann
die Geschäfte.«
»Wie immer in diesem Haus.« Meister Boris zwinkerte den Jungen zu.
Skip und Erle tauschten einen Blick. Sie mussten zurück. Jedem von ihnen war klar, dass es keine Zeit zu verlieren gab. Doch
wenn die Zwielicht-Motten schwärmten, blieb nur eine Wahl – man entschied sich für die Sicherheit eines Hauses. Entweder dies,
oder man erlitt dasselbe traurige Schicksal wie der alte Meister Ighor. Und trotzdem sagte ihm sein |30| Gefühl, dass sie noch in diesem Augenblick den Rückweg hätten antreten sollen.
»Warum bist du darauf eingegangen?«, zischte er Ellah zu, als sie einen Augenblick außer Hörweite anderer waren.
Sie warf ihm einen strafenden Blick zu. »Wir haben keine Chance, solange die Zwielicht-Motten draußen schwärmen. Das weißt
du doch. Wir haben keine Wahl!«
Skip wusste, dass sie recht hatte, aber er hätte doch lieber vorher noch alles ausdiskutiert.
Meisterin Marfa war in der Küche verschwunden und kehrte nun mit einem Tablett zurück. Drei bis obenhin mit Ochsen-Lotos-Eintopf
gefüllte Schüsseln, dazu einen noch warmen Laib ihres berühmten, betörend nach Kardamom duftenden dunklen Roggenbrotes stellte
sie auf den Tisch.
Erst jetzt bemerkte Skip, wie hungrig er war. Sie hatten seit dem Morgen, da sie zu ihrer normalerweise so unproblematischen
Zehn-
Werst
-Wanderschaft zur Sumpfstadt aufgebrochen waren, nichts mehr gegessen.
Das Essen schmeckte köstlich. Das Brot war warm und feucht und das mit Kartoffeln, Gemüse,
Rashda-
Samen, Kiefernspitzen und Gewürznelken angereicherte Ochsenfleisch des Eintopfes eine wohlriechende, auf der Zunge zergehende
Köstlichkeit. Meisterin Marfa ließ sich ihre Gewürze von den Karawanen aus Shayil Yara liefern und war zudem äußerst geschickt
darin, sie mit einheimischen Kräutern so zu mischen, dass die Menschen weit und breit von ihren Künsten schwärmten. Viel zu
schnell schlang Skip seine Portion hinab und lehnte sich dann gegen die Wand zurück, um nun wenigstens jene wohlige Behaglichkeit
zu genießen, die sich dank des warmen Essens in seinem ganzen Körper ausbreitete.
Der Schankraum füllte sich immer noch mehr. Als Skip so gegen die Wand gelehnt dasaß, gewahrte er überall lachende Gesichter,
über Tische gebeugte Rücken und, da jedes muntere |31| Gespräch seine Unterstützung haben wollte, gestikulierende Hände. Der Geruch von hellem, obergärigem Ale hing über den Tischen;
das Stimmengewirr wurde lauter, die Gesichter rotwangiger und die Bewegungen zusehends unsicherer. An der Schanktheke hatte
sich eine dichte Menge versammelt, und der einäugige Fedor vollbrachte bravourös wie eh und je das Kunststück, mit eleganten
Gesten das Bier auszuschenken und dazu noch an mehreren Gesprächen gleichzeitig teilzunehmen. Skip ließ seinen Blick über
das ausgelassene Treiben schweifen, bis zum anderen Ende der Theke – und erstarrte.
Dort stand das unglaublichste Mädchen, das er je gesehen hatte.
Sie war Olivianerin, mit einer Haut so dunkel wie flüssige Schokolade mit einem Hauch Sahne, kurzgeschnittenen goldblonden
Haaren und violetten Augen von so klarer und stechender Intensität, wie man sie nur von kostbaren
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