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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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säbelte. Es war uns gestattet, während des Essens jederzeit den Tisch zu verlassen, aber wir blieben fast immer sitzen. Und ebenso war es uns erlaubt, beim Essen wild durcheinanderzureden, und das taten wir auch. Je besser wir uns bei Tisch unterhielten, umso mehr schien es den Eltern zu gefallen, nur bäurische Naturen, redefaul und sprachlich ungelenk, malmten ihr Essen sprachlos hinunter. Nichts zu sagen zu wissen, galt in unserer Familie als Makel, darum waren wir heillos routiniert, Konversation zu treiben, weil nicht zu reden viel schlimmer war, als über nichts zu reden. Nur die jüngere der beiden Schwestern hüllte sich oft in düsteres Schweigen und verweigerte sich dem sprachlichen Familienprogramm, das uns witzige Gewandtheit und charmante Verlogenheit lehrte.
    Aber selbst wenn wir uns durch originelle Unterhaltung ausgezeichnet hatten, war die Milch in der Tasse doch nicht weniger geworden. Niemand zwang uns, sie zu trinken, aber wenn wir sie stehenließen, wurde der Vater einsilbig, bis das Gespräch erstarb und zwischen uns das Schlimmste wuchs, das niederschmetternde Familienschweigen. Hatten wir etwas angestellt, wurden wir vom Vater fast nie getadelt; jetzt aber saßen wir um den Tisch, und er schaute missbilligend auf unsere Tassen, denn er, den so vieles nicht kümmerte, was andere Väter wütend machte, zeigte sich geradezu bekümmert, wenn Speisen nicht aufgegessen wurden. Als er die Stille ins Unerträgliche gedehnt hat, langt er, die Miene weniger verärgert als betrübt, mit seiner Gabel herüber und fährt mit dieser vorsichtig in die Tasse, um die Haut, die sich sogleich schlatzig über die Zinken der Gabel legt, langsam zu seinem Mund zu führen und sie mit einem schlürfenden Geräusch in diesem verschwinden zu lassen. Wir sehen das mit gleich viel Erleichterung wie Entsetzen, er hat sich wortlos für uns geopfert, aber sein Opfer ist eine Anklage. Wir sind eine Familie von Aufopferern, einmal opfert sich die Mutter auf, dann der Vater, und dann opfern sich beide zusammen auf, und endlich ist die große Schwester an der Reihe und dann die jüngere Schwester und jede für die andere und beide gemeinsam für alle, und am Ende läuft ein jeder mit der Schuld herum, die ihm von den anderen, die sich für ihn aufgeopfert haben, aufgeladen worden ist.
    Ich fragte mich manchmal, ob Vater die Haut womöglich sogar schmeckte, aber die bloße Tatsache, dass wir sie verschmähten, nahm er als Missachtung der Schöpfung. Wir spürten, dass er uns ein schlechtes Gewissen machen wollte, weil wir uns undankbar gegen die Gaben erwiesen, die uns Gott auf den Tisch gelegt hatte, was er bei Millionen anderen Kindern, die darben mussten, nicht tat; und weil wir uns nicht schämten, dass er es auf sich nahm, an unserer statt das eklige Zeug zu vertilgen. Wir hatten uns also gegen Gott im Himmel und die hungernden Kinder auf Erden versündigt und uns rücksichtslos gegen ihn erwiesen.
    Warum wir überhaupt heiße Milch vorgesetzt bekamen? Mutter hielt sie für gesund, und da wir fortwährend in der Gefahr standen, von einer Krankheit dahingerafft zu werden, hat sie uns schweren Herzens damit traktiert. Schließlich mussten gerade wir unsere Widerstandskräfte stärken, die wir seelisch empfindsamer und körperlich empfindlicher waren als die Kinder
anderer
Leute
.

DER ROTE BLITZ hatte zwei dicke weiße Räder zum Aufpumpen, einen schmalen Steg, auf dem ich mit einem Bein stehen konnte, während ich mich mit dem anderen, so fest es ging, vom Boden abstieß, und eine Lenkstange, an der weder die Gummiverstärkung bei den Griffen noch die Glocke fehlte. Als ich den Tretroller zu meinem vierten Geburtstag erhielt, konnte ich schon ziemlich gut fahren und bei Kurven die Beine auf dem Trittbrett sogar ein wenig einknicken, damit es gefährlicher aussah. Die Freunde besaßen längst ihre Roller, freilich keinen Roten Blitz, sondern diese, wie mir jetzt auffiel, geradezu lächerlichen Holzbretter, an die kleine schwarze Hartgummireifen montiert waren, in denen keine Luft war. Mein Roller aus Metall und mit richtigen Reifen machte mich den älteren, in der Technik des Rollens schon unterrichteten Freunden mit einem Mal überlegen, und ich habe diese Überlegenheit, unablässig in der Siedlung fahrend, ein paar Wochen lang hemmungslos genossen.
    In der Kurve, die von der Radetzkystraße in die Auffenbergstraße wegführte, kam ich zu Sturz und schlug mir Knie und Ellbogen an den weißen, scharfzackigen Steinen auf,

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