Das Erste, was ich sah
Monate, nachdem er sich mit den Seinen auf den Weg machen musste, im Lazarett eines ungarischen Lagers, in dem die Donauschwaben seines Ortes darauf warteten, sich in alle Welt zu zerstreuen. Vater erzählte nur von ihm, wenn er ein paar Gläser zu viel getrunken hatte, was er gerne tat, wahrscheinlich weil er nicht so früh sterben wollte wie sein Vater, der keine sechzig wurde.
Den anderen Großvater, der tot war unter den Lebenden, nannte ich Opa. Ihn kannte ich, weil er seit der
Vertreibung
in einem bayrischen Dorf lebte, in dem wir ihn regelmäßig besuchten. Er verließ das Haus nicht, und wenn wir eintraten, saß er reglos am Fenster und schaute unverwandt in die Ferne hinaus. Mit ihm war nichts anzufangen, allerhöchstens dass er es duldete, wenn Mutter mich auf sein Knie setzte und ich die Richtung seines Blicks aufnahm und gleich ihm zum Fenster hinausblickte. Dort war nicht viel zu sehen, eine graue Zeile unansehnlicher, gleichförmiger Häuser, alle mit demselben kleinen Garten davor, in dem Ort lebten fast ausschließlich Donauschwaben, die hier an einem Flüsschen namens Alz ihr verlorenes Dorf an der Donau noch einmal aufbauten und sich exakt an die Ordnung hielten, in der sich die Straßen und Häuser
zuhause
befunden hatten. Da gab es die eine Hauptstraße und zwei Parallelstraßen, die alle drei schnurgerade verliefen und von einigen Gassen in rechtem Winkel geschnitten wurden. Opa wohnte in der Hauptstraße, immerhin war er früher der reichste Kaufmann seines Dorfes gewesen. Zupfte ich ihn an seinem stacheligen weißen Schnurrbart, wandte er mir manchmal seinen Blick zu, als wunderte er sich, dass da jemand war, und schaute mit schimmernden Greisenaugen durch mich hindurch. Lass ihn, sagte Oma, die klein und quirlig war und mir unentwegt über die Wangen strich und meinen Namen nannte, lass ihn, der Opa
grüwelt
.
ES WAREN DIE TOTEN TIERE , die mich den Tod erkennen und fürchten lehrten: der Käfer, der auf seinem bläulich gepanzerten Rücken lag und von den Heerscharen der Ameisen sorgsam zerteilt und weggeschleppt wurde, die Maus im Garten, ein zerbissener Klumpen Fleisch, der Vogel, der mit platt gewalztem grauen Gefieder auf der Straße lag … Ich brachte es nie zuwege, ein inniges Verhältnis zu Tieren zu gewinnen: Ich fürchtete sie, wenn sie groß waren und bellen oder fauchen konnten, und ich ekelte mich vor ihnen, wenn sie klein waren wie die braunen Würmer, die sich nach dem Regen über den Gehsteig kringelten, manche verletzt, auf halber Länge ihres dünnen Körpers aufgeschwollen; oder wie die Schnecken, die, von einem einzigen Tritt zerquetscht, zu Schleim wurden, in dem die Splitter ihres zersprungenen Hauses steckten; oder die Gelsen, die ein Pantoffel der Schwestern an die Wand geklatscht hatte, schwarze Flecken mit den roten Sprengseln des Blutes, das sie aus uns gesaugt hatten. Ich fürchtete die Tiere, weil ich sie nicht verstand und nie voraussehen konnte, wie sie sich verhalten würden, und mich ekelte vor ihnen, weil sie sterblich waren, ja, sie waren es, die mir die Sterblichkeit vor Augen führten und den Tod ansichtig machten.
Als Opa ins Krankenhaus kam und ich hörte, wie sich meine Schwestern besprachen, dass er vielleicht sterben musste, lief ich aus der Wohnung, sauste das Treppenhaus hinunter und, so schnell ich konnte, im Garten herum, doch überall, wo ich stehen blieb, wartete der Tod bereits auf mich, ihm war nicht zu entrinnen. Ich sah Opa, der immer denselben fleckigen schwarzen Anzug getragen hatte, wehrlos in ein Bett des Krankenhauses gesteckt, ich fürchtete um ihn und musste mir in einem fort seinen weißen Leib vorstellen, der immer unter dem schwarzen, den Geruch von Moder verströmenden Anzug verborgen gewesen war; und wie ich fürchtete, dass er sterben würde, begann ich mich auch zu ekeln, vor der Sterblichkeit selbst, die mit einem Mal nicht mehr nur über die Tiere verhängt war, sondern auch über Opa und mit ihm über alle Menschen, zu ekeln vor der Sterblichkeit, die aus dem Gras, in dem das tote Getier lag und von seinesgleichen emsig aufgefressen wurde, in unsere Wohnung, in meine Welt trat und diese auf immer veränderte.
VON GOTT WAR MIR natürlich Jesus am liebsten. In der Kirche auf dem Hügel, von der ich aus meinem Zimmer das geschwungene grüne Dach des Turms und das rote des Schiffes sehen konnte, war er überall gegenwärtig: im Hochaltar als Kind auf dem Arm seiner in reinem Gold erstrahlenden Mutter, auf dem Holzkreuz als
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