Das Erste, was ich sah
prallten.
Wir sind nie auf die Berge gegangen, die wir alle Tage vor Augen hatten, und nur von anderen Kindern habe ich gehört, wie es ist, eine Wanderung im Gebirge zu unternehmen. Unsere Eltern waren Flachländer und sagten, die Berge seien am schönsten aus der Ferne, aber auch von da nicht so schön wie die Ebene, aus der sie stammten und die Batschka hieß. Das Land dort war so flach und weit, dass nicht mehr zu erkennen war, wo der Himmel begann und wo das Land endete, im Sommer wurde es in dieser Ebene glühend heiß, die Luft begann zu flirren, ein feiner Staub schien über dem ganzen Land zu verbrennen, und wenn ein Gewitter nahte, konnte man sehen, wie die Blitze unendlich weit entfernt in die Kukuruzfelder niedergingen. Die Landschaft dort war eintönig und gelb und hatte etwas Trauriges, sagte Vater, die Landschaft hier war abwechslungsreich und grün, aber mehr für Leute gemacht, die immer gutgelaunt sein wollten. Wir gingen nicht ins Gebirge, wir streiften auch nicht durch Wälder und über Wiesen, wir machten keine Ausflüge, und wenn die Schwestern berichteten, dass ihre Schulkameradinnen am Wochenende oder im Urlaub mit ihren Eltern wandern waren, haben sich die unseren immer einen Blick zugeworfen, in dem eine spöttische Überlegenheit lag. Wir sind keine Wandervögel, sagte Vater, und Mutter lachte, es klang, als wären sie sich einig, dass alle Leute einen Vogel hatten, die den freien Tag nicht wie wir damit zubrachten, zuhause zu faulenzen oder im verrauchten Café in Zeitschriften zu blättern.
Wir saßen erst beim Sonntagsfrühstück, als draußen die Familie Heilgartner bereits geistlos in die Natur hinausmarschierte, der kräftige Vater in schweren schwarzen Knickerbockern, die in einem Wulst über die Knie hinabfielen, mit einem großen, grünen Rucksack am Rücken, daneben die feste, fröhliche Frau, eine Lehrerin, die unter der knielangen Hose weiße Stutzen trug, und hüpfend und jubilierend voraus die drei Söhne, Diethard, Rüdiger, Waldemar. Die Heilgartner sah man fast an jedem freien Tag zu einem Ausflug aufbrechen, zügig schritten sie zur Busstation am Rand der Siedlung, um hinaus aufs Land zu fahren.
Es war ein strahlender Frühlingstag und Vater hatte eine Idee: »Heute ist doch richtiges Kinowetter, oder? Und am Abend werden wir sehen, ob die
Nazis
immer noch so gutgelaunt sind, wenn sie aus dem Feld zurückkehren.«
ICH HATTE EINEN GROSSVATER , der gestorben, und einen Opa, der tot war. Den Großvater hatte ich nie gesehen, er war in einem
Flüchtlingslager
in Ungarn zugrunde gegangen, als ich mich noch am Milchbrunnen langweilte. Er war schon krank, als er seine kleine Stadt in der Batschka verlassen musste, mit den meisten ihrer Bewohner. Ich stand vor dem dunklen Ölbild, das im Vorzimmer an der Wand hing und einen blattlosen Baum zeigte, an dessen braunem, knorrigem Stamm ein altes Flüchtlingspaar sein Hab und Gut abgestellt und sich zur Rast gebettet hatte, er ein Greis mit kahlem Haupt, die Augen erschöpft geschlossen, sie eine kräftige Frau, die das Kopftuch tief über die Stirn gezogen und die Augen ratlos aufgerissen hatte … Ich stand vor dem Bild und stellte mir vor, wie es war, als aus den
Donauschwaben
Flüchtlinge wurden.
Was ich sah, war eine lange, schwarze Menschenschlange, die über die Landstraße kroch, eine Straße, die vom Regen aufgeweicht war, sodass die Pferdewagen im Morast stecken blieben. Ich wusste, die Straßen in der Batschka waren nicht asphaltiert gewesen, im Sommer wirbelte der Staub auf, wenn man über sie lief, im Herbst und Winter aber wurde ihr Boden weich, tief und schwer. Alle Leute schleppten, gekrümmt vor Anstrengung, große Koffer mit sich, nur Großvater ging aufrecht und trug nichts als seine Briefmarkensammlung unter dem Arm. Wie er im schwarzen Wintermantel in der wogenden Menge schritt, achtete er auf nichts als seine Alben, die Wäsche, das bisschen Geschirr mussten seine Frau, die Großmutter, die ich nie gesehen hatte, und seine Tochter, die Schwester meines Vaters, die ich nie kennenlernte, tragen. Mein Großvater war Lehrer an der Volksschule von Palanka und Gründer des ersten Abstinenzlerbunds der Stadt gewesen, er hasste Alkohol und die Unordnung, die er hervorrief, wie er die Briefmarken und die Ordnung liebte, in die er mit ihnen die Welt bringen konnte. Ausgerechnet er, der den Alkohol für den Urgrund allen Übels hielt, wurde von der Krankheit der Trunkenbolde heimgesucht und starb an Leberzirrhose, sechs
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