Das Erste, was ich sah
Gefängnis geflüchteten Triebtätern erzählten, und wurde traurig, dass Opa und Oma ihr Leben wie eine Strafe absitzen mussten, und zugleich missmutig, sie bald wieder in ihrem Gefängnis besuchen zu müssen. Mir wäre es recht gewesen, der ganze Ort, in dem ich lernte, die Schrecken der Langeweile auszumessen, würde hinter dem Eisernen Vorhang verschwinden, unerreichbar werden, unsichtbar.
ICH TRÄUMTE OFT VON DEM DICKEN MANN , der auf dem Dach stand, bis ich den dünnen Mann sah, der durch die Luft ging. Als die jüngere Schwester berichtete, was sie in der Stadt gesehen hatte, leuchteten ihre Augen vor triumphierender Verzweiflung. Ein dicker Mann war auf dem Dach des berühmten Hotels mit kleinen Schritten immer näher an den Rand getreten, und obwohl er gleich in seinen Tod springen würde, hatte er geradezu vorsichtig über ihn hinabgelugt. Ein Selbstmörder, auf den die halbe Stadt schaute, denn das Dach war sogar vom Kai auf der anderen Seite des Flusses zu sehen, das war eine Sensation, am nächsten Tag würden die Zeitungen davon berichten. Aber unbegreiflich blieb es trotzdem, wie sich jemand in die Tiefe stürzen, sein Leben beenden konnte, wenn ihn so viele dabei beobachteten. Zum Sterben versteckte man sich doch, wie Fluschi, die Katze der dicken Doris, die im Garten unter einen Strauch gekrochen war; Doris, die fünf, sechs Jahre älter war als ich und stärker als die meisten Buben, saß davor und hielt zwei Tage lang Wache, nur wer sich still verhielt und ehrfürchtig, durfte sich neben sie legen und der Katze eine Weile beim Sterben zusehen.
Die jüngere Schwester, die in der Stadt gewesen war, erzählte, wie rasch sich vor dem Hotel, am Kai, auf der Brücke Trauben von Menschen gebildet hatten, die mit den Fingern nach oben, auf das Dach zeigten, wo der dicke Mann sich noch ein bisschen weiter an den Abgrund schob und wirkte, als würde er jetzt, so knapp vor dem Ziel, nur ja nicht aus Unachtsamkeit stolpern wollen. Alle hatten auf ihn gestarrt, der dort in einem dunklen Regenmantel stand und auch angesichts der versammelten Zuseher nicht von seinem Plan ließ, schweigend standen die Leute unten, und erst als er sprang, kurz nachdem ein Polizist auf den Balkon des obersten Stockwerks herausgetreten war und auf den Mann schräg über sich einzureden begonnen hatte, schrien sie alle auf, und im selben Augenblick, sagte die Schwester, habe sie die Augen geschlossen. Die Mutter warf ihr den Besorgtheitsblick zu, die Welt lauerte voller Gefahren, und der Selbstmord gehörte zu ihnen. Kaum war die Rede von ihm, warnte uns Mutter schon, als handle es sich beim Selbstmord um einen Irrtum, dem wir leicht erliegen konnten. Es wäre dumm, sagte sie, sich umzubringen, denn wie düster einem das Leben auch vorkommen möge, immer würden wieder lichtere Tage folgen, und was einem heute aussichtslos erscheine, sei morgen schon gar nicht mehr wichtig, darum war es ein schwerer Fehler, sein Leben aus Ungeduld zu beenden, nur weil man die schöneren Tage nicht mehr erwarten konnte.
Ich musste oft an den dicken Mann auf dem Dach denken, doch dann sah ich den dünnen Mann in der Luft gehen. Vom Turm der Maxglaner Kirche zum Dach der Feuerwehr war ein Seil gespannt, auf dem der Seiltänzer in weißer Hose und weißem Hemd balancierte. Er hatte eine lange weiße Stange in seinen Händen, ging langsam, manchmal in den Knien sich wiegend dem höheren Kirchturm zu, das Seil war gegen den Abendhimmel gut zu erkennen und schaukelte sachte. Die Leute hielten die Luft an, zeigten einander mit den Fingern, was sie ohnedies alle hoch über ihren Köpfen sahen, den italienischen Artisten, und unten gingen, als er mit ein paar raschen Schritten das Ziel erreicht hatte, zwei schöne dunkle Frauen, eine alte und eine junge, und ein paar stolze Kinder, die alle ganz in Weiß gekleidet waren, unter den Zuschauern herum und sammelten Geld ein, das sie reichlich erhielten.
Herr Dobrovolny fragte auf dem Nachhauseweg, ob das nichts für uns wäre, leicht verdientes Geld und dazu noch Applaus und Bewunderung. Aber Mutter und Frau Dobrovolny antworteten prompt, als würden sie befürchten, einer von uns könnte womöglich gerade in diesem Moment den verhängnisvollen Entschluss fassen, Seiltänzer zu werden, dass das viel zu gefährlich sei und immer wieder welche abstürzten und ihre Kinder im Elend zurückließen.
WURDE ICH VON DEN MEINEN GEKRÄNKT , schlich ich mich aus der Wohnung, ging die paar Schritte zur gegenüberliegenden
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