Das Erste, was ich sah
Mann, mit einer klaffenden Stichwunde in der Seite, und ganz oben im Kirchenschiff auf einem Bild zusammen mit dem Heiligen Geist und dem bärtigen Gottvater. Für diesen sprach, dass er die Welt erschaffen hatte und wir alle nicht wären ohne ihn, ja, dass ohne ihn überhaupt nichts wäre außer nie vergehende finstere, kalte Nacht. Gegen ihn sprach, dass er mit der Welt auch den Tod erschaffen hatte, obwohl er, da er allmächtig war, es auch hätte einrichten können, dass es etwas wie den Tod gar nicht gäbe. Immerhin, man konnte mit ihm verhandeln, und ich versprach ihm oft Dinge, was ihn zu freuen schien, auch wenn ich dann auf sie vergaß oder sie nicht einzuhalten vermochte.
Der Heilige Geist war auf dem Hochaltar in Form von Blitzstrahlen oder von Zacken aus Licht zu sehen, und da er keinen Körper hatte, konnte ich mir unter ihm nichts Rechtes vorstellen, woran auch die roten Zungen, die auf einem Bild über den Aposteln schwebten und ebenfalls den Heiligen Geist darstellten, nichts änderten. In der Volksschule traf ich später auf Arnold, meinen ersten Versucher Gottes, einen bleichen dicken Buben, der mit Gott nicht verhandelte, sondern ihn mit ruchlosen Sprüchen nötigen wollte, sich ihm zu offenbaren, und sei es als strafender Richter. Einmal streckte er unerwartet die Zunge heraus, sodass wir in seinen roten Rachen schauen konnten, und als er den Mund wieder zuklappte, fragte er: Wer bin ich? Und beeilte sich, gleich selbst zu antworten: Der Heilige Geist! Dieser Witz traf mich ins Mark, doch erschütterte er mich nicht nur, weil ich ihn für einen Frevel hielt, sondern auch, weil ich trotzdem lachen musste. Auch Pater Petrus wusste, was es mit dem Heiligen Geist auf sich hatte, nicht so zu erzählen, dass uns aufgegangen wäre, wie wir den Lichtstrahl, die schwebende Zunge achten und lieben lernen konnten. Pater Petrus war ein unförmiger Mann, dessen Rundungen unter dem schwarzen Habit schwabbelten, ich mochte diesen weichen Koloss, weil er so innig vom Leben Jesu erzählte und uns später, als Religionslehrer der Volksschule, als grundgütiger Mann entgegentrat.
Dann aber kam, als wir von der Sonntagsmesse heimwärts gingen, die Stunde, in der ich hörte, was nicht für meine Ohren bestimmt war, nämlich wie Vater und Mutter über die Predigt von Pater Petrus lachten, als würden sie sich über etwas besonders Einfältiges amüsieren, das sie gerade erlebt hatten. In diesem Augenblick, da wir von der Kirche den Hügel abwärtsgingen und ich schon den Kanal sah, der an der Biegung der Straße unter dieser verschwand, hörte ich, wie die Welt mit einem feinen, scharfen Schnitt entzweiriss. Von einer Sekunde zur anderen begreife ich, dass die Eltern an das, was in der Kirche erzählt wird, selbst nicht glauben, und dass sie die heilige Messe in Wahrheit für ein Theater halten, das sie der Kinder wegen besuchen. Ich weiß nicht, was mich mehr empört, dass sie den Glauben verloren haben oder dass sie gar nicht daran denken, mich in ihr Wissen um Gott und seine Priester einzuweihen.
ICH HATTE EINE GROSSMUTTER , die unsichtbar hinter dem
Eisernen Vorhang
verborgen war, und eine Oma, die mit trippelnden Schritten wie aus dem Nichts auftauchte, sobald Mutter krank war. Ich versuchte mir oft vorzustellen, wie dieser Vorhang aussah, ob er Falten aus Eisen warf, so wie der ockergelbe Vorhang im Wohnzimmer in Falten aus schwerem Samt herniederfiel. Aber der Eiserne Vorhang hieß nur so und war nirgendwo auf einem großen, kahlen Feld zugezogen worden; trotzdem konnte, wer jenseits von ihm lebte, nicht mit denen in Verbindung treten, die auf dieser Seite wohnten.
Großmutter war mit Großvater, der nur seine Briefmarken liebte, in dem Flüchtlingslager in Ungarn gestrandet, in dem er den Trinkertod starb. Weil sie ihre Tochter liebte, zog sie von dort nicht in den
Westen
weiter, wie es mit meinem Vater ausgemacht war, sondern in eine Stadt namens Budapest, denn dort wartete ein Mann auf die Tochter, den diese heftig liebte und der heftig begehrte, von ihr geliebt zu werden. Und so kam es, dass die Familie nicht im Westen wieder vereint wurde, sondern meine Großmutter und meine Tante jenseits eines Vorhangs blieben, den es gar nicht gab und der sie uns trotzdem für immer entzog. Der östliche und der westliche Familienzweig blühten künftig jeder für sich, ohne Verbindung, denn der Ungar der Liebe war ein berühmter
Kommunist
, der darauf achtete, keine deutschvölkischen Verwandten im kapitalistischen
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