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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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Ausland zu haben.
    Während die Großmutter in den Legenden verschwand, sorgte Oma in Garching, dem Dorf, das mit seinen schnurgeraden Straßen, seinem Staub, seiner Langeweile von der Donau an die Alz übersiedelt worden war, für den Opa, den sie morgens an das Fenster setzte und abends ins Bett schickte, damit er Tag und Nacht ungestört von seinem Geschäft in der Batschka träumen konnte. Sie ließ ihn nur allein, wenn sie ein paar Tage bei uns verbringen, auf mich aufpassen und für die Geschwister kochen musste. Sie liebte uns, darum weinte sie, wenn sie uns begrüßte und sich von uns verabschiedete, aber es gefiel ihr nicht bei uns. Sie fürchtete den Lift und ächzte die Treppen zu Fuß hinauf, es schwindelte sie, wenn sie aus dem Fenster im vierten Stock auf die Berge ringsum schaute, und dass wir das Klosett in der Wohnung hatten, hielt sie für unhygienisch, der Abtritt gehörte in den Garten oder wenigstens ins Stiegenhaus. Oma war zierlich und ging fast nur in Schwarz, in ihrem Alter geziemte es sich nicht mehr, helle Kleider zu tragen, und manchmal kam sie in bodenlanger Tracht, unter der sie mehrere Schichten von Unterröcken angelegt hatte, die das Kleid lustig bauschten. Dann sah sie aus wie eines jener alten
Kittelweiber
, die uns in der Stadt über den Weg liefen, in ausladenden Röcken, mit dunklen Kopftüchern, die Taschen für den Verkauf auf dem Markt prall mit Zwiebeln, Gurken, Bohnen oder mit Blumen gefüllt, und über deren seltsames Aussehen der Bruder und ich lachten, bis Vater einmal sagte: »Das sind doch
unsere Leute

    Wir hatten nicht das Gefühl, dass das unsere Leute waren, aber es war jedenfalls unsere Oma, die uns der Reihe nach mit ihren gefürchteten nassen Küssen am Hals und im Genick begrüßte und beständig unsere Namen wiederholte. Sie hatte eine weiche, weiße Haut, huschte von da nach dort, sprach schnell und viel und streichelte dabei über das Gesicht des Kindes, das ihr gerade am nächsten stand, und doch war immer etwas Schweres und Schwermütiges, eine uns traurig machende Traurigkeit um sie. Auf dem Ort, in dem sie lebte, schien ein Verhängnis zu lasten, sodass wir Enkelkinder uns nie frohgemut aufmachten, wenn wir sie besuchten. Der Zug, den wir am Hauptbahnhof bestiegen, hieß Triebwagen, wie der E-Zug von Elektrik und die Dampflokomotive von Dampf angetrieben wurden, musste der Triebwagen von der Kraft gewaltiger Triebe zum Fahren gebracht worden sein. Alle paar Minuten hielt er, und die Stationen hatten diese gleichförmigen bayrischen Namen, sodass ich nie wusste, wie weit wir schon waren, Freilassing, Kirchanschöring, Fridolfing, Tittmoning, Tüssling …
    In Garching überquerten wir den Bahnhof über eine Brücke aus grünem Gestänge und Holzbalken, zwischen denen man auf die rostigen Gleise sah, gingen den Wald entlang und bogen beim Geschäft des Fleischhauers Filippi, der uns auf dem Rückweg die donauschwäbischen Bratwürste für die nächsten Monate mitgab, nach links in die staubige Hauptstraße ein, in der alle Häuser gleich aussahen und in jedem Garten die gleichen Gemüsestauden wuchsen. Kaum dass wir bei Opa und Oma in ihrem kleinen, engen Häuschen angekommen waren, wurden wir schon wieder hinausgedrängt, denn die Enkelkinder herzuzeigen, war Omas größter Stolz. Die Schwestern hassten diese Parade durch das Dorf, der Bruder trottete auf seine Weise mit, ohne innere Beteiligung am Geschehen zu verraten, nur ich hoffte, die Leute würden auf kolossale Auftritte von mir warten, und war dann enttäuscht, dass sich in diesem wie in Ereignislosigkeit erstorbenen Ort keine Gelegenheit dafür fand.
    Vier Häuser weiter wohnte Joachim, der Sohn von Jakob Janko, der
unten
in der
alten Heimat
Schuster gewesen war und es hier als Fabrikarbeiter bereits zu einem eigenen Auto gebracht hatte. Joachim war so alt wie die ältere meiner Schwestern, saß den ganzen Tag vor dem Haus auf der Gartenbank und gab ein erschreckendes Grunzen der Freude von sich, wenn er jemanden entdeckte, den er begrüßen konnte und umarmen wollte. Oma sagte, er wäre ein »Kreting«, aber könne nichts dafür, deswegen sollten wir nett zu ihm sein, auch Jakob Janko und seine Frau konnten nichts dafür, überhaupt war es angebracht, nett zu allen Leuten zu sein, weil niemand etwas dafürkonnte.
    Wenn wir abends wieder nachhause fuhren, lauschte ich, erschöpft vom Dorf und seiner streng geordneten Eintönigkeit, den Zeitungsgeschichten, die sich die Schwestern von aus dem

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