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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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als habe er mit dem Mann, dessen Name auf dem Türschild stand, nichts zu tun und befinde sich nur zufällig auf Besuch bei dieser musikalischen Familie. Vater ließ sich aber nicht täuschen und goss mit seiner für ihr geringes Volumen und ihre Heiserkeit jetzt erstaunlich lauten Stimme einen Kübel von Anklagen über ihn aus, was im Stiegenhaus beifällig aufgenommen wurde. Am Ende seiner gründlichen Ermahnung, die Herr Dorfer gleichmütig über sich ergehen ließ, als gelte sie ohnedies nicht ihm, fragte er diesen mit wieder leise gewordener Stimme: »Und wissen Sie, was Sie jetzt tun können? Jetzt können Sie mich im … im Abendblatt lesen.« Keiner meiner Freunde hatte einen Vater, der den Herrn Dorfer zu so etwas aufgefordert hätte und der vor dem Abendblatt die Pause so dramatisch zu setzen, das A danach so verächtlich in die Länge zu ziehen imstande gewesen wäre, darin war meiner einfach unnachahmlich. Nur Mutter fand, es sei peinlich, dass er am Ende doch ordinär geworden war.

GELEITET VON MEINEM BRUDER , der hier schon drei Jahre Schüler war, betrat ich die Volksschule in Mülln und wunderte mich, dass die Lehrerin, die uns in der ersten Klasse erwartete, so alt war. Sie hieß Wolferseder, wie sie uns mit samtener Stimme mitteilte, die wir später so oft brüchig werden hörten, hatte dunkle Augen und weinte manchmal. Nicht gleich am ersten Tag, da weinten vielmehr die meisten Mädchen und sogar ein paar von den Buben, die sich aber eher dafür schämten und es nicht gleichermaßen genossen, dass Frau Lehrer Wolferseder zu ihnen kam und sie umstandslos an ihren Busen drückte. »Busen« hätte niemand von uns zu dem gesagt, wovon die Frau Lehrer Wolferseder reichlich hatte, auch ich nicht, nicht einmal im Stillen, wenngleich mir das Wort und was es bezeichnete nicht unbekannt war und es mich zugleich angenehm beruhigte und angenehm aufregte, wenn sie meinen Kopf an ihn presste.
    Die Frau Lehrer Wolferseder, nie habe ich gehört, dass sie anders angeredet worden wäre, immer war dem Familiennamen die männliche Berufsbezeichnung mit der weiblichen Anrede vorangestellt, muss unglücklich gewesen sein, aber ihr großes Unglück hatte sie nicht verhärtet, sondern empfänglich gemacht für das kleine, das sich alle Tage ereignet. Wir waren gerade damit beschäftigt, im Schulheft den Buchstaben O so wohlgeformt in Reih und Glied aufmarschieren zu lassen, wie es uns die Frau Lehrer Wolferseder auf der Tafel vorgemacht hatte, da unterbrach sie die Arbeit und hieß uns zum Fenster gehen. Jenseits der schmalen Augustinergasse erhob sich der steile Fels des Mönchsbergs, zu dessen Füßen mächtige Bäume in die Höhe ragten. Und jetzt sprangen dort von Ast zu Ast zwei Eichhörnchen hinauf, um in den Wäldern des Mönchsbergs zu verschwinden. Wir standen dichtgedrängt und staunten über das Geschick der eleganten Tiere mit dem buschigen Schweif, so wie ich heute staune über diese Lehrerin, die die Schulkinder dazu anhielt, die schiefen Reihen wackeliger Os stehenzulassen und Wichtigeres zu tun, nämlich aus dem Fenster zu schauen.
    So eindringlich, wie sie uns auf Dinge aufmerksam machte, so innig weinte sie manchmal. Sie nahm dann am Katheder Platz, was sie sonst selten tat, sagte nichts, verbarg aber auch nicht das rundliche Gesicht, über das die Tränen flossen. Seltsam, doch ihr Weinen, das sie wohl jede Woche einmal ergriff, hat uns weder erschreckt noch unruhig gemacht, wir verhielten uns vielmehr so leise, wie es nur ging, um die Frau Lehrer Wolferseder nicht beim Weinen zu stören. Zwei Wochen vor den Sommerferien, wir hatten die Zahlen und Buchstaben bereits gelernt, schrieb sie statt des richtigen Datums vom Juni 1961 ein falsches an die Tafel; sie wischte es, als wir lachten, mit dem Schwamm weg, versuchte ein anderes, das wieder falsch war, und so ging es eine Weile, die Frau Lehrer Wolferseder hatte, wie uns später erklärt wurde, lauter Daten von Schlachten aus dem Zweiten Weltkrieg auf die Tafel geschrieben.
    Endlich verließ sie das Klassenzimmer, und nach einiger Zeit trat der Herr Direktor herein, ein Offizier auf Schulurlaub, der etwas von einem Mann und von Russland sagte und uns dann bis zum Ferienbeginn beim Stillsitzen und Ruhighalten überwachte. Die Frau Lehrer Wolferseder kam nicht wieder. Im Herbst, nach den Ferien, stand statt ihr die fesche, fröhliche Frau Heilgartner in der Klasse, die uns die nächsten drei Jahre rechnen, lesen und schreiben lehrte, indem sie den langen,

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