Das Erwachen
du dich nicht jedes Mal, wenn ich an dich denke, dir ein Geschenk mache?«
»Doch, sehr. Und das macht mich glücklich.«
Henry nickte, ohne das Gesicht zu verziehen, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet.
»Schatz, deine Suppe wird kalt.«
»Schatz, deine Suppe wird kalt«, äffte er sie nach und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Und dann noch mal: »Deine Suppe wird kalt.«
Sarah, die zusammengezuckt war, beobachtete ihn und war irritiert. So hatte sie Henry noch nie erlebt.
»Fällst dir nichts auf?«, fragte er nach einigen Sekunden in bewusst ruhigem Ton. In einem gefährlich ruhigen Ton. Seine Hände hatte er flach aufgestützt.
Sarah gab Mary, die das Esszimmer betreten hatte und verlegen die Schürze zurechtrückte und glättete, ein Zeichen, dass sie hinausgehen sollte.
»Was soll mir auffallen? Du hattest einen schlimmen Tag.«
»Fällt dir in diesem Raum nichts auf«, wurde er deutlicher.
Sarah inspizierte das Esszimmer und schüttelte den Kopf. »Nein. Schön haben wir es hier.«
»Auf diesem Tisch«, wurde er noch deutlicher und deutete vor sich auf Teller und Geschirr. »Fällt dir nichts auf diesem Tisch auf?«
Sarah, die nun ahnte, dass etwas äußerst Unangenehmes auf sie zukam, gegen das sie sich nun nicht mehr wehren konnte, die leicht den Kopf zwischen die Schulter eingezogen hatte und ihren Mann etwas von unten anblinzelte, fast schon unterwürfig, verneinte. Auf dem Tisch stand keine Butter. Henry konnte Butter nicht ausstehen. »Das Geschirr, die Sets, die Vase mit den himmlischen Rosen, mit deinen Rosen, die du mir geschenkt hast – ich weiß nicht, was du meinst. Mary hat schön gedeckt.«
»Schön gedeckt, dass ich nicht lache. Und du hast sie nicht kontrolliert. Personal muss man stets und ständig kontrollieren, sonst nehmen sie sich alles heraus und tanzen dir auf der Nase herum.«
Langsam rutsche Henry näher zum Tisch und beugte sich in ihre Richtung. »Mehr als zwei Jahre kennen wir uns«, begann er gefährlich leise, um dann wie von Sinnen zu schreien: »Und du beachtest immer noch nicht, dass ich Linkshänder bin. Jedes Mal deckst du den Tisch falsch, bewusst falsch, um mich zu provozieren. Der Löffel kommt auf die linke Seite, dahin, wohin auch das Messer gehört. Das Glas kommt auf die linke Seite, der Salatteller auf die andere.« Mit einer Armbewegung wischte Henry das Geschirr vom Tisch. Es zerschellte auf dem Fliesenboden, die inzwischen kalt gewordene Suppe spritzte bis zum Fenster und hinterließ am Vorhang gelbgrüne Spuren von Curry und gestampften Erbsen.
Mary erschien in der Tür und schlug erschrocken die Hände vor das Gesicht.
»Raus!«, herrschte Henry sie mit rot angelaufenem Gesicht an. »Los, verschwinde.«
Und als Mary gegangen wir, erhob er sich und stützte sich auf den Tisch. »Das ist eine Missachtung meiner Person«, brüllte er in der gleichen Lautstärke weiter. »Permanent provozierst du mich. Stellst die Dinge falsch hin, hast keine Ordnung, rückst nicht die Stühle an die richtige Stelle, die Vasen trollen irgendwo in der Ecke. Nicht zu vergessen die Bilder und der Staub. Überall Staub, wo man nur hinschaut. Und Flusen und Hundehaare. Fingerabdrücke auf dem Holz und auf dem Glas, Apfelsinenschalen im Aschenbecher, leere Gläser auf der Anrichte. Und dann auch noch dieses ständige falsche Eindecken. Das ist Absicht. Das ist Sabotage. Immer muss ich auf die andere Seite greifen, um essen zu können.«
»Aber im Restaurant …«
Henry sprang auf und kam um den Tisch herum. »Halt den Mund. Das Restaurant habe ich nicht geheiratet. Das Restaurant liebe ich nicht, mit ihm gehe ich nicht ins Bett.« Er beugte sich zu ihr. »Und wenn ich den Kellner darauf aufmerksam gemacht habe, dann deckt er um. Dafür bezahle ich ihn. Aber meine Frau bezahle ich nicht, sie ist mein Partner.«
Wie er so über ihr stand, das Gesicht rot angelaufen, die Adern am Hals hervorgetreten, mit den zuckenden Muskelsträngen, flößte ihr Henry zum ersten Mal Angst ein. Gut, es hatte in der Vergangenheit schon einige kleinere Wutausbrüche gegeben. Aber wenn sie sein Temperament im Bett genoss, er sie ungeahnte Höhepunkte erleben ließ, sie auf Gefühlswolken schwebte und er ihr Bedürfnis nach Sex und Zärtlichkeit stillte, dann musste sie es auch außerhalb des Bettes in Kauf nehmen.
Mit großen Augen sah sie ihm nach, wie er, hoch aufgerichtet und mit steifen Schritten, das Zimmer verließ. Hart fiel die Tür ins Schloss.
Sarah wachte auf.
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