Das Erwachen
schob die Urkunden über den Tisch.
Carmen überflog die in gestelztem Deutsch verfassten Texte.
»Ein Schuldanerkenntnis über 2 Millionen Euro. Abgesichert durch Bankeinlagen und Grundschuldbriefe. Als Schmerzensgeld noch nicht einmal so schlecht«, fügte sie sarkastisch hinzu.
Carmen, die einen flüchtigen Blick zu Sarah warf, las weiter und fragte nach wenigen Augenblicken erstaunt: »Henry hat dir seinen Gesellschafteranteil an der Firma übertragen?«
»Ja, seinen Anteil, den einzigen Anteil. Die Firma gehört mir.« Stolz sah Sarah die Ärztin an.
»Gratuliere.« Aber dieses gratuliere klang irgendwie beiläufig und seltsam unbeteiligt aus Carmens Mund. Ohne Freude und emotionslos ausgesprochen, als könne sich noch etwas Ahnungsvolles ereignen. Als erwarte sie noch eine grundlegende Wendung.
»Außerdem hat Henry die Gütertrennung aufgehoben, dich als Erbin eingesetzt und dir Verfügungsgewalt über all seine Konten gegeben.«
Sarah nickte voller Zufriedenheit: »Ja, wie du sehen kannst.«
Carmen klappte die Urkunden zu, legte eine Hand darauf und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem harten, hellgrauen Deckpapier.
»Sarah, das verstehe ich nicht. Zuerst behandelt dich dieses Schwein wie den allerletzten Dreck, vergewaltigt dich, schändet dich, quält dich, und nun erbst du später alles von ihm und erhältst sein Geschäft obendrein. Als wolle er etwas gutmachen.«
Sarah hatte dafür eine Erklärung. »Nenne es Einsicht.«
»Nein, das nehme ich ihm nicht ab. Und dieser Akt«, Carmen tippte auf eine Urkunde und suchte eine bestimmte Stelle, »ist am 4. Mai vollzogen worden. Das war …«, Carmen überlegte, »… fünf oder sechs Tage, bevor wir Henry und dich gefunden haben. Das verstehe ich nicht.«
Sarah sah keine Veranlassung, sich zu äußern. Ihr kam die Entwicklung mehr als gelegen.
»Zuerst … ach lassen wir das.« Carmen winkte ab. Und dann, als hätte sie einen Punkt vergessen: »Wenn jemand seinen Gesellschafteranteil überträgt, muss da die andere Person nicht anwesend sein?«
»Nein, es geht auch mit Vollmacht.«
»Und die konnte Henry vorweisen?«
»Ja«, antwortete Sarah ohne lange zu überlegen.
»Aber zu dem Zeitpunkt warst du offiziell tot.«
»Das wusste der Notar nicht.«
»Schön, er wusste es nicht«, gab Carmen zu. »Aber Henry hat zumindest deine Unterschrift benötigt.«
Als müsste Sarah einen bekannten Umstand erklären, sprach sie wie zu einem kleinen Kind: »Ich war doch für ihn zu jeder Zeit greifbar.«
»Aber er musste sich die Unterschrift amtlich beglaubigen lassen.«
»Ach Carmen, was bist du so penibel. Auch Unterschriften von Toten werden amtlich beglaubigt. Wo ist da das Problem? Vor allem, wo ist da das Problem, wenn man Henry von Rönstedt heißt und hier in Saarburg alles bekommen kann. Er brauchte nur mit dem Finger zu schnieken.«
Dieses Argument überzeugte Carmen.
»Außerdem habe ich mich heute beim Notar ausweisen und alle Unterschriften in seinem Beisein wiederholen müssen«, fügte Sarah hinzu.
»Dann scheinst du ja jetzt am Ziel deiner Wünsche zu sein«, stellte Carmen mit traurigem Unterton fest.
»Das klingt ja so, als würdest du es mir nicht gönnen?«
Aber davon wollte Carmen nichts wissen. »Wenn ich es jemandem gönne, dann dir, nach all dem Leid. Wann fahren wir heute Abend?«
»Willst du wirklich in die Diskothek nach Trier?«
»Natürlich, Sarah. Gerade deswegen haben wir uns doch verabredet. Wollten wir nicht mal eine andere Umgebung haben? Uns etwas amüsieren, den Alltag vergessen?«
»Gut, auf nach Trier. Stürzen wir uns in das Nachtleben. Kommt mein Retter Wellstein auch?«
»Wer weiß?« Carmen hob vielsagend die Schultern. »Aber heute nehmen wir den Schlitten deines Mannes. Der macht was her. Heute geht es rund.«
Sarah und Carmen hatten sich zurechtgemacht, waren guter Laune, scherzten und stiegen in Henrys Achtzylinder. Bereits zwei Kilometer hinter Saarburg war die Fahrt beendet. Carmen schaltete das Radio ein, aber an Stelle von Musik vernahmen sie plötzlich Henrys Stimme. Sarah steuerte den Wagen kurz vor Biebelhausen, einem Vorort von Saarburg, in einen Feldweg. Und dann hörten beide Henry zu.
Am Anfang plauderte er unbefangen über seine Freunde und die Mitglieder des SUV. Eine allzu gute Meinung schien er nicht von ihnen zu haben. Henrys Stimme klang klar und deutlich. Mit der Zeit jedoch sprach er leiser, undeutlicher und mit längeren Pausen zwischen den Sätzen. Und er richtete wieder
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