Das Erwachen
habe ich nicht nötig.«
Carmen sah im schwachen Lichtschein des Armaturenbrettes, wie Sarah die Tränen über die Wange liefen. Und sie sah den starren Gesichtsausdruck, wie gemeißelt. Aus Enttäuschung und aus Wut.
»Jetzt höre aber auf«, protestierte Henry laut. »Die zwei Millionen, es waren ja keine zwei, die kannst du doch nicht als Mitgift bezeichnen. Das habe ich mir verdient.«
Sie hörten Henry schnauben. »Alles legst du mir negativ aus.
Alles. Ich kann sagen, was ich will. Warum bist du eigentlich so fies zu mir? Habe ich dir etwa etwas getan, he?«
Wieder war eine Weile nichts zu hören. »Ja, das stimmt«, gab Henry zu. »Das stimmt leider. Die Bank hat David kurz vor der Hochzeit zu verstehen gegeben, man habe viele Monate gewartet, nun sei Schluss. Hat ihn zur Unterschrift gezwungen. Zwei oder drei Tage vorher. Es war ein Donnerstag, da waren wir auf dem Standesamt. Und am Samstag haben wir geheiratet. Zwei Tage also. Natürlich ist die Bank Schuld an dem Desaster. Geht der arme David doch hin und nimmt Gift in der Hochzeitsnacht. Dafür kann ich doch nichts. Hätte mit mir reden sollen. Vielleicht wäre uns eine Lösung eingefallen. Die arme Sarah. Hat sie schlimm getroffen. Ist doch auch verständlich. Stirbt der Vater in der Hochzeitsnacht. Besser gesagt, bringt sich um. In der Hochzeitsnacht. Als wolle er seine Tochter bestrafen.«
Carmen fuhr das Auto zurück nach Saarburg und stellte es in die Garage. Sie stützte Sarah auf dem Weg zum Haus und brachte sie gleich ins Schlafzimmer. Sie zog Sarah aus, legte sie ins Bett und ging nach nebenan ins Bad. Beruhigungsmittel gab es in der Hausapotheke genügend. Mit zwei Aspirin und einer Noveril kam sie zurück. Eine Schlaftablette würde Sarah nicht benötigen. Das Noveril wirkte entspannend und ermüdend.
Und dann stellte sich Carmen einen Stuhl neben das Bett und setzte sich zu Sarah. Die lag ruhig mit geschlossenen Augen und schien zu schlafen.
»Vergiss das dumme Gequatsche von Henry, Sarah«, bemühte sich Carmen, sie zu trösten. »Wir wissen doch, wie es um ihn steht.«
»Das mit meinem Vater hätte er nicht tun dürfen«, war Sarah schwach zu hören. »Dieses Schwein. Das hätte er nicht tun dürfen. Wie ich ihn hasse. Und mit dem Schuldanerkenntnis über zwei Millionen will er alles gut machen. Sich bei mir freikaufen.«
Carmen nahm Sarahs Hand und streichelte sie. »Bitte, rede nicht darüber. Es ist alles ausgestanden. Dein Vater ist nun seit drei Jahren tot. Du kannst es nicht mehr ändern.«
»Aber ich kann meine Trauer in Hass umschlagen lassen«, wurde Sarahs Stimme fester. »Hass kann auch ein schönes Gefühl sein. Es frisst zwar an dir, aber ich empfinde es als schön.«
»Und rede dir um Himmels Willen nicht ein, dein Vater habe dich bestrafen wollen mit seinem Tod.« Carmen beugte sich näher und betrachtete Sarah. Unter den Augenlidern sah sie, wie sich ihre Augäpfel heftig bewegten. »Er wollte Henry bestrafen. Dein Vater konnte nicht mit ansehen, dass Henry dich geheiratet hat. Dieser Schmerz war für ihn zu groß. Sein liebstes Stück an der Seite von Henry, der ihn ruiniert hat.«
»Ich zahle es ihm heim.«
»Das brauchst du nicht mehr. Henry hat es sich selbst heimgezahlt. Er ist für alle Zeit aus deinem Leben verschwunden. Henry ist auch tot.«
Carmen bemerkte, wie Sarah flüchtig lächelte. Diese Vorstellung schien ihr zu gefallen. »Ja, Henry ist für mich auch tot. Und trotzdem hasse ich ihn. Auch Tote kann man hassen. Wenn man um sie trauern kann, dann kann man sie auch hassen.«
Der Sommer kündigte sich an mit blauem Himmel und gleißender Sonne. Im Garten blühte und grünte es, der Weg zum Haus war von Rosen unterschiedlicher Farben eingerahmt. Im Gästehaus wohnte wie in den Jahren zuvor der Gärtner, der das große Grundstück wieder zu dem machte, was es immer schon war: eine duftende, farbenprächtige Augenweide, vor der Fremde stehen blieben, um es sich anzuschauen und zu fotografieren.
Im Haus deutete schon lange nichts mehr auf die schrecklichen Vorfälle hin. Mary versah ihren Dienst wie eh und je, allerdings mit wesentlich mehr Freude und Elan, weil sie nicht mehr so zurechtgewiesen wurde. Manchmal konnte man sie sogar singen und pfeifen hören. Mary hatte sich auch längst andere Schuhe gekauft. Die Gesundheitssandalen habe sie, wie sie Sarah augenzwinkernd gestand, einfach weggeworfen. Was nützten ihr gesunde Füße und bequeme Schuhe, wenn sich kein Mann nach ihr umschaue? Und so alt
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