Das Erwachen
Aber wir haben was anderes gemacht und uns gezeigt, wie lieb wir uns haben.«
»Und weshalb ist Walli verschwunden?«
Henry zuckte mit der Schulter.
»Hat deine Mami sie weggeschickt?«
»Ich weiß nicht.«
»Oder dein Papa?« »Ich weiß nicht.«
»Hat Walli mit deinen Eltern Streit gehabt?«
»Nein. Keinen Streit.«
Ludevik lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Zuviel war auf ihn eingestürmt. Er musste sich konzentrieren.
»Hast du mit deiner Mami Streit bekommen?«
»Ja. Sie war böse auf mich.«
»Was hast du getan?«
»Ich wollte ihr zeigen, wie lieb ich sie habe.«
»Und wie hast du es gezeigt?«
»Ich bin zu ihr ins Bett gekrochen, als sie noch geschlafen hat. Und da habe ich ihre Höcker gerieben und auch zwischen den Beinen und bin in ihre Höhle gegangen. Da war sie sehr böse auf mich.«
Und weil Ludevik nichts sagte, fügte Henry hinzu: »Aber meine Mami hatte mich nicht lieb. Sie war nicht feucht.«
Eine bedrückende Stille lastete in Ludeviks Praxis. Eine Stille, wie sie immer schlimmen und schrecklichen Nachrichten folgte, als müsse das Schicksal sich von der eigenen Courage, zugeschlagen zu haben, erholen. Eine Stille, die man benötigte, um auch mit dem letzten, sich sträubenden Winkel des Verstandes die Tragweite zu erfassen. Die Körper und Geist etwas Zeit ließ, ein neues Mosaik zusammenzusetzen, Verbindungen zu erkennen und zu reagieren.
Sie atmeten flach und vermieden jede Bewegung. Sarah und Carmen schienen von den Worten gebannt zu sein und ihrem inneren Echo nachzulauschen. Henrys Geständnis lichtete für sie den Nebel um seine Psyche, ein Vorhang nach dem anderen wurde gelüftet. Sie sahen klarer, erfassten die Bedeutung, erkannten die Auswirkungen, die sich daraus ergeben hatten. Ihre Gesichter waren ernst und nachdenklich und wirkten zugleich verstört. Die Augen hatten sich jeweils einen Punkt ausgesucht, der sie fesselte und der ihnen befahl, sich zu nichts anderem zu bewegen. Als würde jeglicher Kontakt sie zu ungewollten Mitwissern machen.
Sarah warf Carmen nach einer Weile einen schnellen Blick zu und senkte sofort wieder den Kopf, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Und sie fühlte sich auch ertappt, denn nun kannte sie das Geheimnis um Henrys Aversion gegen Butter. Walli hatte damit ihre Finger eingerieben, um besser in seine Höhle zu gelangen.
Ludevik stand mühsam auf wie ein alter Mann, ging zu einer Anrichte und füllte drei Gläser. Sie tranken schweigend und vermieden es immer noch, sich anzuschauen. Sie, die Zeugen, trugen schwer an dem Gehörten, an einer Beichte, die sie beunruhigte. Niemand von ihnen hatte bisher in diese Richtung gedacht, weil es keinen Hinweis gab. Keine Vorzeichen hatten aus ihrer Sicht auf eine solche Entwicklung hingedeutet.
Ludeviks Worte, obwohl leise ausgesprochen, durchschnitten die Stille. »Henry hat mit keinem Wort erwähnt, dass sein Kindermädchen ihn zu etwas gezwungen hat. Für ihn war alles, was er oder sie getan haben, ein Zeichen dafür, dass sie sich mochten. Und er klammerte sich an diese Liebe oder wie immer man es nennen mag. Er wollte seine Liebe zeigen und hat darauf gewartet, dass Walli sich mit ihm beschäftigte.«
»Weil ihn sonst niemand beachtete, weil sonst niemand Zeit hatte und sich mit ihm befasste«, warf Carmen sarkastisch ein. »Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, Henry ist nun mal missbraucht worden.«
»Natürlich«, pflichtete Ludevik ihr bei. »Ein frühkindliches psychisches Trauma. Lang andauernde seelische Belastungen haben auf Henry eingewirkt, die er nicht verkraften konnte und die bei ihm psychosomatische Schäden verursacht haben.«
»Spricht man in diesem Fall nicht auch von einer Neurose?«, fragte Sarah.
»Ja, könnte man sagen«, konstatierte Ludevik. »Henry zeigte eine psychische Verfassungsanomalie zu seiner Umwelt, zu seinen Mitmenschen, geprägt durch Unsicherheit und Labilität, die er zu verstecken suchte. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Und vielleicht ist es genau das, was auf Henry zutrifft. Meiner Meinung nach sind es Angstneurosen, die ihre Ursache in einem Stau oder einem Mangel sexueller Energie haben. Auf den heutigen Henry bezogen klingt das paradox, nicht jedoch auf Henry als Kind und Jugendlicher. Bei ihm liegt als Ursache seiner psychischen Neurose ein Konflikt zwischen seinem Wunschdenken des Es und dem Abwehrdenken des Ich vor. Genau in dieses Muster passen auch seine Träume, wenn sie denn wirklich Träume
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