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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Verwundert versuchte sie die Dunkelheit zu durchdringen.
    »Henry, bis du schon zu Hause?«, fragte sie schläfrig und tastete mit einer Hand das Bett neben sich ab. Es war leer. Erleichtert atmete sie auf. Alles nur ein Traum, der immer wiederkehrende Albtraum, mit dem eigentlich alles begonnen hatte.
    Ihr Kopf schmerzte. Im Bad fand sie Aspirin. Sie wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser tat gut. Zögernd schaute sie sich im Spiegel an. Was war nur aus ihr geworden? Wie hatte sich ihr Äußeres verändert, der Ausdruck in ihren Augen? Von Lebensfreude war nichts mehr übrig geblieben. Stumpf kam ihr der Blick vor, grau wirkte ihre Gesichtshaut. Und die Falten auf der Stirn rührten nicht nur von den Kopfschmerzen. Immer, wenn sie trank, bekam sie Kopfschmerzen. Eigentlich mochte sie den Alkohol nicht. Und die Art, wie sich Menschen veränderten, wenn sie zu viel getrunken hatten, mit schwerer Zunge sprachen, nur zögernd, wenn überhaupt, die richtigen Worte fanden und Speichel verteilten. Sie sich anbiederten, ihre Nähe suchten, um Vertraulichkeit buhlten, ein Zwang, unter dem die meisten Angetrunkenen standen. Aber das Vergessen war Sarah wichtiger. Nur gelang ihr das nicht mehr so wie früher. Zu tief hatten die schlimmen Erinnerungen sich eingegraben. Zu sehr spürte sie permanent den Schmerz der Enttäuschung, der sie aufzufressen begann. So wie bereits ihre Gefühle für Henry. Das Meiste war schon abhanden gekommen. Und was noch übrig war, genügte ihr nicht. Dabei empfand sie früher eine Liebe, groß und tief wie ein Ozean. Und auch so unerschöpflich. Nichts hätte sie schmälern können, dachte sie zu Beginn ihrer Ehe. Keine Krise, keine Krankheit, nicht die Verleumdungen und spitzen Bemerkungen so genannter Freundinnen, von denen es immer welche gab und die permanent unter dem Deckmäntelchen der Vertraulichkeit einen Keil zwischen Henry und sie zu treiben versuchten. Manche aus gekränkter Eitelkeit, weil sie nicht zum Zuge gekommen waren und sie ihre Position einnehmen durfte. Andere aus Neid und immer ihr Eheschicksal vor Augen, weil sie glaubten, ihr ginge es zu gut, sie würde dafür nichts tun und hätte es somit auch nicht verdient.
    Sarah trank einen Schluck Wasser, wandte sich ab und schlurfte zurück ins Schlafzimmer. So kraftlos wie sie ging, fühlte sie sich auch. Und so alt und ausgelaugt. Ohne Lebensmut, ohne Perspektive. Rücklings ließ sie sich auf das Bett fallen und starrte die Decke an. Weiß gelackte Glasfasertapete, die das Licht reflektierte. Wie oft schon hatte sie in den letzten Monaten die Decke angestarrt, wenn Henry über ihr lag und seine Form der Liebe unter Beweis stellte. Er dann keuchte und wirre Worte stammelte, die sie nicht mehr hören konnte. Sie wusste es nicht. Und wenn sie dann den Kopf zur Seite drehte, hatte sie ihn im Fenster beobachten können. Die ruckartigen Bewegungen seiner Hüfte, die angespannten Oberarme, mit denen er sich abstützte. Sie hatte die Wände betrachtet und überlegt, welches Bild in ihr Schlafzimmer passe, was ihre augenblickliche Stimmung wiedergäbe. Unwillkürlich kam sie auf Munchs ›Der Schrei‹, so stumm wie der ihre, und trotzdem so eindringlich. Darüber war sie dann doch erschrocken. Irgendwann war ihr aufgefallen, dass sie ihre lackierten Fingernägel begutachtete und im Kopf die Einkaufsliste zusammenstellte. Sie dachte an alle Banalitäten nur nicht an den Augenblick. Längst hatte sie es aufgegeben, im richtigen Augenblick zu stöhnen oder auch nur ansatzweise eine Spur von Erregung zu zeigen. Sie war ohne Gefühl und ohne Leben. Henry schien es egal zu sein. Und im Laufe der Zeit hatte sie immer sehnlicher den erlösenden Augenblick herbeigesehnt, wenn er wie eine Katze zu buckeln anfing. Dann war es endlich vorbei.
    »Na, schmollst du immer noch?«
    Henry war in ihr Zimmer gekommen, ohne dass sie ihn gehört hatte. »Was liest du denn Schönes?«
    Er nahm ihr das Buch aus der Hand. »Was ich mir Wert bin«. Er legte das Buch auf den Tisch. »Interessanter Titel, wirklich interessant. Und, was bist du dir wert?«
    Sarah wirkte apathisch. Nicht ein Wort hatte sie lesen können. Seit zwei Stunden saß sie in ihrem Zimmer, hatte nur geweint und gestarrt. Unentwegt gestarrt, ohne etwas zu sehen, und geweint, wenn sie an ihn dachte.
    Er setzte sich neben sie. »Und was bist du dir wert?«, wiederholte er in einer Stimme, die einschmeichelnd klingen sollte. So sprach er immer, wenn er eine bestimmte Absicht hegte. Seine eine,

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