Das Erwachen
Rechtsanwalt, seine Frau Annika Physiotherapeutin mit eigener Praxis. Und was Sarah besonders mochte, sie gaben sich normal und standen nicht unter dem Zwang, permanent alle guten Eigenschaften und ihre Cleverness zu beweisen. Eine Cleverness, die in Henrys Kreisen in letzter Konsequenz immer dazu führte, dass jemand benachteiligt wurde.
»Henry?« Sven deutete auf Sarahs Auge.
»Ja. Aber eigentlich war es der Nachttisch.«
»Den du getroffen hast, als du Henry ausweichen wolltest.«
Sarah antwortete nicht.
»Dass er dich schlägt und mies behandelt, weiß inzwischen ganz Saarburg«, warf Annika ein. »Andere Männer schlagen auch zu, aber diskreter.«
»Meint sie dich, Sven?« Sarah erkannte, ihr Scherz war misslungen. Sie trank von dem Bier, was man vor sie hingestellt hatte.
Sven Dornwald wurde ernst. »Du erinnerst dich doch an unser Gespräch vor einem halben Jahr?«
Sarah nickte.
»Du wolltest zwei Tage später wiederkommen und Unterlagen mitbringen. Deinen Vermögensstatus, das Testament deines Vaters. Bis heute warte ich darauf. Wirst du irgendwann vielleicht doch noch erscheinen?«
»Ja, vielleicht.«
»Und warum damals nicht?«
Sarah drehte den dünnen Stil des Glases und malte mit dem nassen Fuß Kreise auf die Tischplatte. »Glaube mir, Sven, es ist nicht so einfach, euch als Zeugen für unsere Eheprobleme und das ganze Drumherum zu haben. Erst recht nicht, weil ihr Freunde von mir seid.«
»Quatsch. Gerade jetzt brauchst du Freunde.«
Sarah sah es anders, weil sie über eine längere Zeit die glückliche und zufriedene Ehefrau gespielt hatte, obwohl sie es längst nicht mehr gewesen war. Andere, die sie kannte, spielten unentwegt, machten ihrem Umfeld etwas vor. Küsschen hier, Küsschen da, Händchen halten, kleine Aufmerksamkeiten. Sie aber konnte diese Art der Heuchelei nicht ausstehen. Was nicht bedeutete, dass sie mit ihren Problemen hausieren ging.
Sven versuchte sie zu beruhigen. »Wir machen uns doch alle etwas vor, Sarah. Brave New World. Nur die wenigsten geben sich so, wie sie wirklich sind.«
»Das meine ich nicht.« Nach wenigen Sekunden sprach Sarah weiter: »In einer Ehe, wenn es um Gefühle geht – das ist intim und geht im Grunde genommen niemanden etwas an. Deshalb bemühst du dich auch, Spannungen nicht nach außen zu tragen. Ihr wisst ja, wie die meisten reagieren. Schadenfroh sind sie, haben es immer schon gewusst, und dann beginnt die Gerüchteküche. Schließlich wirst du zum Gespött der anderen. Das möchte ich nicht, Sven.«
Dornwald winkte ab. »Bei euch kursierten die ersten Gerüchte schon mit der Hochzeit. Henry, wieso er die Firma wieder hat aufbauen können, und dann du, die reiche Tochter eines Bauträgers, der ganze Siedlungen errichtet hat. Nicht zuletzt wegen dieser Tragödie bei deiner Hochzeit. Sarah, Gerüchte um dich und Henry gibt es schon immer. Hier in Saarburg haben wir keine eigene Tageszeitung, und die Menschen gieren danach, sich mitzuteilen. Sich aufzuspielen und beachtet zu werden.«
»Ich werde allem ein Ende bereiten. Sven, morgen oder übermorgen komme ich zu dir. Ich lasse mich scheiden. Endgültig.«
Der Rechtsanwalt schaute sie an, als zweifle er an ihrem Vorhaben.
»Ich halte es einfach nicht mehr aus. Es sind nicht die Schläge, die mich zermürben, sondern das, was hier«, Sarah tippte sich gegen die Schläfe, »… was sich hier drinnen abspielt. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Verstand spielt mir Streiche, ich werde wahnsinnig. Und deswegen muss nun Schluss sein. Ich brauche Abstand und die Freiheit. Die Freiheit vor mir selbst und meinen grübelnden, zermürbenden, zersetzenden und destruktiven Gedanken.«
Annika und Sven schauten sie an, als wollten sie etwas fragen. Sarah spürte, dass etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen lag.
»Gibt es von Henry eine neue Episode, die ich wissen müsste?«, fragte sie beiläufig. »Hat er ein Verhältnis?«
»Nicht um Henry, sondern um dich ranken sich Geschichten«, wurde Annika deutlich.
»Um mich?«, tat Sarah überrascht und ahnte doch, worauf die beiden hinauswollten. Saarburg war nur eine kleine Stadt, Trier nicht weit entfernt …
»Sarah, wir kennen uns so gut, dass ich dich geradeheraus frage: Stimmt das mit der Brücke?« »Ja.«
Die beiden erschraken. »Und du warst so nah daran?« Sven führte Daumen und Zeigefinger bis auf wenige Millimeter aneinander.
»Vielleicht noch weniger.«
»Wieso sitzt du wieder hier bei uns?«
»Man hat mir erzählt, ein Autofahrer
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